In der Welt toben Kriege, grassieren Hunger und Dürre, Erdrutsche begraben Hunderte in Papua Neuguinea, China rasselt vor Taiwan mit seinen maritimen Säbeln, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will Bodentruppen in die Ukraine schicken und mit Waffen auch Russlands Territorium beschiessen… Doch das ist alles nichts, gegen den politischen Sturm, der sich derzeit über Deutschland zusammenbraut.

Die «Sylt-Affäre»!

Man weiss nicht mehr, ob man lachen oder weinen soll: Alkoholisierte, halbstarke Partygäste grölen auf der Nordsee-Partyinsel zu den fröhlichen Beats von «L’amour toujours» von Gigi D’Agostino (eigentlich: Luigino Celestino Di Agostino) ausländerfeindliche Parolen («Deutschland den Deutschen. Ausländer raus!»).

Kanzler, Bundespräsident und Bundesinnenministerin sind alarmiert, einige der depperten Deppen verlieren ihren Job, für das kommende Oktoberfest und die Cannstadter Wasen wird der zwanzig Jahre alte Party-Hit verboten (!), auf etlichen anderen Volksfesten ebenfalls. In Magdeburg müssen Autofahrer ihre Handys abgeben, weil Denunzianten verräterische Beats aus dem Wagen gehört und die Polizei alarmiert haben. Und auf den Download-Plattformen wird der Song zum Super-Smash-Hit.

Deutschland ist irre geworden.

Ein trunkener Kaschmir-Plebs probt den Aufstand der Wohlständigen, und Deutschlands links-grüne Demokratiefördervereine ordnen die Marschbataillone gegen die grölende Reichen-Wehr.

Ein Song, übersetzt etwa «Liebe immer und überall», wird verfolgt, weil sich irgendwer einen dämlichen Reim darauf ausgedacht hat? Wenn demnächst jemand «Heil Hitler» auf die «Ode an die Freude» textet, verbieten wir dann Beethoven? Oder die Nationalhymne der Bundesrepublik, auf deren Melodie sich die Hymne der verflossenen DDR («Auferstanden aus Ruinen») problemlos singen lässt? Oder um es mit Woody Allen zu sagen: Nur weil ich paranoid bin, heisst das noch lange nicht, dass sie nicht hinter mir her sind.

Ein Austern-Embargo für pubertierende Party-Nazis wäre das Mindeste bevor alle Hindenburgdämme zur Sylter Partymeile brechen!

Könnte es sein, dass der inflationäre Gebrauch des Begriffes «Nazi» die Massstäbe inzwischen soweit verwässert hat, dass die Sylter Parolen als popkulturelle Spass-Provokation durchgehen? Werden Autofahrer mit Sylt-Schattenriss-Aufkleber künftig vom Verfassungsschutz beobachtet, weil das Insel-Konterfei zur Chiffre rechtsextremistischer Umtriebe geworden ist?

Stehen jetzt deutschlandweit unauffällige Männer mit Ringel-Kabel im Ohr neben dem Kirmes-Karussell und rufen «Zugriff!» in ihr verdecktes Manschetten-Mikrofon, wenn das Intro von «Nazi»-Gaga-Gigi aus den Boxen zu hämmern beginnt?

Das Pflegen der deutschen Neurosen ist unversehens zum Massensport geworden. Ein harmloser Ballermann-Beat lässt die Alarmsirenen jener schrillen, die hauptberuflich auf Anfänge warten, denen sie wehren können und Schösse suchen, die noch fruchtbar sind.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Party-People von Sylt haben einen an der Waffel, sind pubertär, unreif und womöglich politisch auf unappetitlichen Abwegen. Das macht die untauglichen Versuche aber nicht weniger dämlich, hinter einem Lied mit dem Verbotsnetz herzulaufen, als wäre es ein brauner Nachtfalter, den man wieder einfangen will.

In der Gesellschaft verschiebt sich etwas. Die Kinder des deutschen Wohlstands legen ganz offensichtlich auch die lästigen Tabus ihrer Eltern ab und lassen sich die Party nicht von der Last der Geschichte verderben. War doch nur Spass. Ein Spass, den die Eltern und Älteren – völlig zu Recht! – nicht verstehen und die in ihrer ratlosen Not zu den autoritären Verbotskeulen ihrer eigenen Elterngeneration greifen.

Merke: Wo man singt, da lass' dich lieber nicht nieder. Auch böse Menschen haben Lieder. Dumme allerdings auch. So gesehen, sind die Lieder-Verbote Vorboten einer an sich selbst scheiternden Gesellschaft.

Völker hört die Signale!

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.

Die 3 Top-Kommentare zu "Sylt wird zur Staatsaffäre: Weil alkoholisierte Partygäste «Deutschland den Deutschen. Ausländer raus» grölen, verfällt die Bundesrepublik in eine Art Massenhysterie. Tragisch!"
  • Karoline

    In meiner Jugend gab es auch Blödsinn, der, nach Alkoholgenuss, nicht unbedingt lobenswert war und über den man zurückblickend den Kopf schüttelt. Schlimm ist nicht das Lied, das gegrölt wurde. Schlimm ist, wie gegen solche Aktionen vorgegangen wir, wie denunziert wird und den Denunzianten Gehör verschaffen wird. Das erinnert stark an die Zeit vor 90 Jahren.

  • bernhardt

    Ich hab in der DDR studiert. Bei Partys und ähnlichem haben wir stets (mit Erfolg) darauf geachtet, dass keine Stasi-Typen in der Nähe waren. Die Jugend im besten Deutschland aller Zeiten muss so etwas auch wieder lernen. Das könnte dann auch eine Vorbereitung für neue Montags-Demonstrationen werden.

  • Al Bühler

    Ok, "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!" grölen geht nun mal gar nicht. Kompromissfähigkeit ist jetzt gefragt. Wie wär's stattdessen mit "Deutschland den Rechten, Linke raus!"? Kommt letztlich auf dasselbe raus ...