Diese Worte richtete António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, am 6. Dezember 2023 an den Präsidenten des Uno-Sicherheitsrates, José Javier de la Gasca Lopez Domínguez. Wir dokumentieren den Brief im Wortlaut und übersetzt.

Sehr geehrter Herr Präsident,

ich schreibe Ihnen nach Artikel 99 der Charta der Vereinten Nationen, um den Sicherheitsrat auf eine Angelegenheit aufmerksam zu machen, die meiner Meinung nach die bestehenden Bedrohungen für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit verschärfen könnte.

Die seit mehr als acht Wochen andauernden Feindseligkeiten im Gazastreifen und in Israel haben entsetzliches menschliches Leid, physische Zerstörung und kollektive Traumata in ganz Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten verursacht.

Bei den abscheulichen Terrorakten der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen am 7. Oktober 2023, die ich wiederholt verurteilt habe, wurden mehr als 1200 Menschen brutal getötet, darunter 33 Kinder, und Tausende verletzt.

Etwa 250 Menschen wurden entführt, darunter 34 Kinder, von denen mehr als 130 noch immer gefangen sind. Sie müssen sofort und bedingungslos freigelassen werden. Die Berichte über sexuelle Gewalt während der Angriffe sind entsetzlich.

Die Zivilbevölkerung im gesamten Gazastreifen ist in grosser Gefahr. Seit dem Beginn der israelischen Militäroperation wurden laut Berichten mehr als 15.000 Menschen getötet, über 40 Prozent davon waren Kinder. Tausende von anderen wurden verletzt. Mehr als die Hälfte aller Häuser wurde zerstört. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung von 2,2 Millionen Menschen wurde in immer kleinere Gebiete zwangsumgesiedelt. Mehr als 1,1 Millionen Menschen haben in UNRWA-Einrichtungen im Gazastreifen Zuflucht gesucht, was zu überfüllten, unwürdigen und unhygienischen Bedingungen geführt hat. Andere können nirgendwo unterkommen und finden sich auf der Strasse wieder. Explosive Überreste des Krieges machen die Gebiete unbewohnbar. Es gibt keinen wirksamen Schutz für die Zivilbevölkerung.

Das Gesundheitssystem in Gaza bricht zusammen. Die Krankenhäuser haben sich in Schlachtfelder verwandelt. Nur vierzehn von 36 Krankenhäusern sind überhaupt in Teilen funktionsfähig. Die beiden grossen Krankenhäuser im Süden des Gazastreifens sind mit dem Dreifachen ihrer Bettenkapazität ausgelastet, und ihnen gehen die Grundversorgung und der Treibstoff aus. Ausserdem beherbergen sie Tausende von Vertriebenen. Unter diesen Umständen werden in den kommenden Tagen und Wochen noch mehr Menschen unbehandelt sterben.

In Gaza ist man nirgendwo sicher.

Angesichts des ständigen Bombardements durch die israelischen Streitkräfte und der Tatsache, dass es weder Unterkünfte noch das Nötigste zum Überleben gibt, rechne ich damit, dass die öffentliche Ordnung aufgrund der verzweifelten Lage bald völlig zusammenbrechen wird, so dass selbst begrenzte humanitäre Hilfe unmöglich ist. Die Situation könnte sich sogar noch verschlimmern, einschliesslich epidemischer Krankheiten und eines verstärkten Drucks zur Massenvertreibung in die Nachbarländer.

In der Resolution 2712 (2023) ruft der Sicherheitsrat dazu auf, «die Bereitstellung solcher Hilfsgüter auszuweiten, um den humanitären Bedarf der Zivilbevölkerung, insbesondere der Kinder, zu decken».

Die derzeitigen Bedingungen machen es unmöglich, sinnvolle humanitäre Massnahmen durchzuführen. Nichtsdestotrotz bereiten wir Optionen für die Überwachung der Umsetzung der Resolution vor, auch wenn wir erkennen, dass dies unter den gegenwärtigen Umständen unhaltbar ist.

Die Lieferungen von Hilfsgütern über Rafah gehen zwar weiter, aber die Mengen sind unzureichend und haben seit dem Ende der Pause abgenommen. Wir sind einfach nicht in der Lage, die Bedürftigen im Gazastreifen zu erreichen. Die Kapazitäten der Vereinten Nationen und ihrer humanitären Partner sind durch Versorgungsengpässe, Treibstoffmangel, unterbrochene Kommunikationswege und wachsende Unsicherheit dezimiert worden. Die Mitarbeiter der humanitären Organisationen haben sich der grossen Mehrheit der Zivilbevölkerung des Gazastreifens angeschlossen und sind vor den anrückenden Militäroperationen in den südlichen Gazastreifen evakuiert worden. Mindestens 130 UNRWA-Mitarbeiter wurden getötet, viele zusammen mit ihren Familien.

Es besteht die ernste Gefahr eines Zusammenbruchs des humanitären Systems. Die Situation entwickelt sich schnell zu einer Katastrophe mit möglicherweise irreversiblen Folgen für die Palästinenser insgesamt und für Frieden und Sicherheit in der Region. Ein solches Ergebnis muss um jeden Preis vermieden werden.

Die internationale Gemeinschaft hat die Pflicht, ihren ganzen Einfluss geltend zu machen, um eine weitere Eskalation zu verhindern und diese Krise zu beenden. Ich fordere die Mitglieder des Sicherheitsrates auf, sich dafür einzusetzen, dass eine humanitäre Katastrophe abgewendet wird. Ich wiederhole meinen Appell, einen humanitären Waffenstillstand auszurufen. Dies ist dringend notwendig. Die Zivilbevölkerung muss vor grösserem Schaden bewahrt werden. Mit einer humanitären Waffenruhe können die Überlebensgrundlagen wiederhergestellt werden, und humanitäre Hilfe kann sicher und rechtzeitig im gesamten Gazastreifen geleistet werden.

Bitte nehmen Sie, Herr Präsident, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung entgegen.

António Guterres