Es gibt in diesem neuen Film über Winston Churchill die hochinteressante Szene im britischen Führungsbunker. Die Deutschen sind im Begriff, Frankreich zu überrennen. Bei Dünkirchen eingekesselt von Nazi-Panzern, stecken die britischen Expeditionstruppen fest. Alle massgeblichen Leute sind der Meinung, dass die britische Regierung mit den Deutschen Frieden machen soll. Dies fordern insbesondere der hochangesehene Ex-Regierungschef Neville Chamberlain und sein nicht minder respektierter Aussenminister Lord Halifax, einst Vizekönig von Indien und Sohn einer uralten Adelsdynastie.

Die Argumente der konservativen Staatsmänner klingen hochgradig vernünftig. Was geht uns dieser Krieg auf dem Festland an? Hitler sei ein Extremist, aber immerhin gegen die Kommunisten, und er habe ja recht, wenn er die ungerechten Grenzen des Ersten Weltkriegs korrigiere. Dass die Deutschen den Kontinent irgendwann kontrollieren würden, sei ein Naturgesetz. Dafür hätten die Briten ihr Empire und beherrschten die Weltmeere. Wozu aus einer Position der Schwäche einen weiteren zerstörerischen Krieg riskieren gegen ­einen militärisch massiv überlegenen Gegner, der bei aller Verirrung ja doch auch berechtigte politische und territoriale Ansprüche erhebe?

Stur in den Untergang

Kurz, es gebe gute Gründe, einen Weltkrieg mit Deutschland und das damit verbundene Gemetzel zu vermeiden. Nachgeben sei nicht Schwäche, sondern ein Gebot des gesunden Menschenverstands, argumentieren feinsinnig die beiden Hochdekorierten. Churchills Konfrontationskurs würde die Wirtschaft zerstören und Millionen das Leben kosten. Das sture Beharren auf der eigenen Position, auf der eigenen Souveränität, ergänzen Chamberlain und Halifax, sei der sichere Weg in den Untergang. Grossbritannien müsse den Deutschen entgegenkommen. Damit sei den britischen Interessen am besten gedient.

Klar, aus heutiger Sicht ist der Fall klar. Hinterher haben es alle schon immer gewusst. Chamberlain und Halifax sind die grossen Versager, die Schwächlinge der Anpassung mit ihrer längst diskreditierten Strategie des «Appeasement». Tragische Lachnummern der Weltgeschichte. Wie konnte man nur so blind und so dumm sein? Umgekehrt ist Churchill anerkannt als Held des Widerstands, der visionäre Staatsmann, der gesehen hat, was man doch zwingend sehen musste und was heute sowieso jeder sieht: dass es mit diesem Nazi-­Reich und diesem Teufel Hitler niemals ein Überein- und Entgegenkommen habe geben dürfen. Churchill steht für Klarblick. Die anderen stehen für charakterlose Unterwerfung an der Grenze zum Landesverrat.

Aber ist wirklich alles so einfach? Der neue Churchill-Film zeigt, und das ist fast noch ­interessanter als die von Gary Oldman eindrücklich verkörperte Hauptfigur: Politisches Handeln findet immer in der moralischen Grauzone statt. Eindeutigkeiten gibt es fast nie. Man stochert im Nebel. Man kennt den Ausgang der Geschichte nicht. Was sich hinterher als zwingende Alternative herausstellt, was aus dem Rückblick wie eine Auswahl mit unverwechselbaren Optionen erscheint, ist in der konkreten Situation oft nur ein Knäuel von Unübersichtlichkeiten. Die Möglichkeit eines schrecklichen Irrtums liegt immer in der Luft. Wissen und Klarheit stellen sich erst im Rückblick ein.

Und vor allem etwas zeigt dieser Film mit ­aller Drastik: Es gibt in der Politik immer hervorragende Gründe, einem vermeintlich stärkeren Widersacher nachzugeben. Chamberlain und Halifax waren eben keine Landesverräter. Im Gegenteil: Sie glaubten, ja sie waren überzeugt, im besten Interesse der Briten zu handeln, wenn sie die Anpassung predigen, wenn sie die Konfrontation vermeiden, wenn sie auf die Forderungen Hitlers einsteigen würden. Sie waren auch alles andere als dumm oder blind. Sie waren hochintelligent, womöglich zu intelligent, so dass sie ihren eigenen Vernünfteleien zu trauen begannen, sich von ihren eigenen Argumenten verführen, davontragen liessen. Chamberlain und Halifax waren für die Erhaltung des Friedens und für Wohlstand. Sie waren gegen Schwierigkeiten und Krieg. Sie wollten keinen «Mais». Dafür waren sie bereit, den Nazis Zugeständnisse zu machen. Churchill dagegen war für Widerstand, für die bedingungslose Verteidigung der Unabhängigkeit. Er offerierte weder Wohlstand noch Frieden, sondern «Blut, Schweiss und Tränen». Was hätten Sie damals gewählt?

Schwitzkasten einfach

Womit wir mitten in der schweizerischen ­Europapolitik wären. Natürlich: Heute stehen wir nicht einem mörderischen Verbrecherregime gegenüber, das Europa mit Waffengewalt zu beherrschen trachtet. Allerdings, und das wird immer wieder leicht vergessen, wussten die meisten Briten und auch die meisten Deutschen noch in den dreissiger und frühen vierziger Jahren nicht, worauf sie sich mit Hitler wirklich eingelassen hatten. Einige der angesehensten Politiker der Welt, wie zum Beispiel der liberale britische Ex-Premier David Lloyd George, waren vor dem Krieg auf den Obersalzberg gepilgert in des Diktators Alpen­residenz und kehrten tiefbeeindruckt zurück. Um den Aufstieg und den Erfolg der Nazis zu verstehen, muss man aufhören, dieses Regime immer nur aus der Apokalypse heraus zu betrachten, die es schlussendlich entfachte.

Die Frage, mit der sich Churchill konfrontiert sah, ist allerdings im Kern die gleiche ­Frage, die heute der Bundesrat beantworten muss: Anpassung oder Widerstand? Verteidigt man die schweizerische Unabhängigkeit oder knickt man ein, ergibt man sich den Forderungen der anderen? Ist der Bundesrat bereit, die vitalen Interessen der Schweiz gegenüber der EU, einer fremden Macht, zu verteidigen? Oder lässt er es zu, dass die EU diese vitalen ­Interessen gefährdet? Bei Hitler ging es zunächst um den Bruch von Friedensverträgen und die gewaltsame Veränderung der europäischen Nachkriegsordnung. Für die Schweiz geht es darum, ob sie sich von der EU einen «institutionellen Rahmenvertrag» aufzwingen, sich in die institutionelle Ordnung der EU einflechten lässt.

Richtig: Beim Rahmenvertrag geht es nicht um Krieg und Frieden. Aber es geht um die entscheidende und wichtigste Frage in der ­Politik: Wer macht die Gesetze? Wer entscheidet? Wer ist schlussendlich der Gesetzgeber? Quis iudicabit?

Brüssel will, dass die Schweiz künftig die ­europäische Gesetzgebung automatisch übernimmt, und zwar in allen «marktrelevanten» Bereichen. Was marktrelevant ist, bestimmt die EU. Brüssel könnte zum Beispiel beim Landverkehr die 60-Tönner einführen oder die Mehrwertsteuer anheben. Zwar hätte die Schweiz noch das Recht, über die Rechtsübernahme abzustimmen. Aber wenn die Stimmbürger nein sagen, ist die EU ermächtigt, Sanktionen, Strafen zu verhängen. Die Schweizer dürfen abstimmen, aber Brüssel hält ihnen die Pistole vor die Stirn. Der institutionelle Rahmenvertrag wäre das Ende der direkten Demokratie. Und ohne die direkte Demokratie ist die Schweiz nicht mehr die Schweiz.

Die Chamberlains von Bundesbern

Anpassung oder Widerstand? Die EU offeriert, anders als Hitler, nicht die Alternative Frieden oder Krieg. Sie bietet an: Marktzugang oder Bestrafung, Exportvorteile oder Diskriminierung, Unterwerfung oder Peitschenschläge. Die Schweiz soll mit der Aussicht auf erleichterten Marktzugang verleitet, verlockt, gefügig gemacht werden, auf ihre Selbstbestimmung, auf die Volksrechte zu verzichten, sich in die institutionelle Ordnung der EU unter europäischen Richtern einzufügen, sich also unter das so süsse Brüsseler Joch zu begeben. Im Gegenzug würde Brüssel darauf verzichten, die Schweizer Wirtschaft zu erpressen.

Anpassung oder Widerstand? Derzeit geben in Bern nicht die Churchills den Ton an. Die wohlmeinenden Anpasser, die übergescheiten Einknicker haben die Mehrheit, die Luft­hoheit, die Chamberlains und Halifaxens, die Feinsinnigen und Freisinnigen. Ihre Argumente klingen so klug und vernünftig. Sie reden nicht davon, dass die Schweiz mit der in­stitutionellen Anbindung ihr Stimmrecht nach Brüssel abgeben würde. Sie reden nicht vom Ende der direkten Demokratie. Sie loben die Grosszügigkeit Brüssels. Einfühlsam legen sie dar, warum die EU doch nachvollziehbare , berechtigte Standpunkte vertrete. Sie preisen die angeblichen wirtschaftlichen Vorteile, die eine schweizerische Unterwerfung unter EU-Recht brächte. Und sie warnen vor dem Unheil, das ein stures Beharren auf der Unabhängigkeit angeblich mit sich bringen würde.

Was machte Churchill? Er hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch und schrie die Einknicker an. Man gibt doch nicht sein Land auf! Man lässt es doch nicht zu, dass andere über das eigene Schicksal bestimmen! Eine Nation, die das Heft aus der Hand gibt, bringt sich um! Man darf doch nicht mit einem Tiger verhandeln, solange der eigene Kopf zwischen dessen Reisszähnen steckt`! Aus heutiger Sicht staunt man bewundernd, wie viel Kraft es Churchill kostete, das stolze Grossbritannien auf einen Widerstandskurs zu bringen. Unvorstellbar aus heutiger Sicht, dass viele Briten ernsthaft in Betracht zogen, sich in eine von Hitler ­diktierte Friedensordnung einzufügen. Viele, ­ausser Churchill.

Die EU ist kein Hitler, noch nicht einmal ein Tiger. Aber auch sie ist mächtig, und sie hält die Schweiz im Schwitzkasten. Es rollen keine Panzer. Es wird mit wirtschaftlichen Erpressungen jongliert. Viele Schweizer sehnen sich danach, den Forderungen nachzugeben. Der Bundesrat, der neue Aussenminister, die Wirtschaftsverbände, die meisten Politiker: Sie alle setzen auf «Appeasement», auf Anpassung und Entgegenkommen. Man redet sich die Vorteile des Einknickens schön. Man schürt die Angst vor einem Verlust des Wohlstands, obschon die Schweiz reicher ist als die EU. Warum soll man den Grossen reizen? Wozu einen Konflikt riskieren, wo doch die Schweiz schon heute vieles nachmacht und übernimmt, was aus der EU kommt? Weshalb dieses mühsame Einstehen für die eigene Unabhängigkeit? Es wäre so viel bequemer und angenehmer, ja geradezu erlösend, unter dem Beifall der anderen in deren ausgestreckte Arme zu sinken.

Widerstand ist anstrengender

Das Beispiel Churchills zeigt: Widerstand ist anstrengender. Und nie selbstverständlich. Selbst gegen einen Hitler war es das nicht. Und heute, da sich eine Schweiz angeblich von Freunden umzingelt sieht, ist es paradoxerweise anspruchsvoller geworden, für die ­Unabhängigkeit zu kämpfen. Fremdbestimmung hat auch etwas Verführerisches. Und noch etwas wird deutlich: Man verteidigt das eigene Land nicht mit dem Taschenrechner. Die Gegner Churchills hatten die besseren, die schlauer klingenden Argumente. Sein Erfolg war nicht das Resultat statistischer Darlegungen. Es war ein Kraftakt, ein Triumph des schieren Willens. Man gibt sein eigenes Land nicht auf!

Anpassung oder Widerstand? Das ist keine Frage des Rechenschiebers. Es ist eine Frage des Willens. Hat der Bundesrat, hat die Politik, haben die Freisinnigen die Kraft, zur Schweiz zu stehen, zu ihrer einzigartigen Staatsform der Selbstbestimmung der Bürger in der ­direkten Demokratie? Haben die Schweizerinnen und Schweizer, bequem und gemütlich geworden nach Jahrzehnten des Wohlstands, noch die Kraft und den Willen, an der Schweiz festzuhalten? Wir werden es sehen.