Weltwoche: Herr Kujat, wie beurteilen Sie die Entscheidung der USA, den Einsatz von Atacms auf russisches Territorium zuzulassen?

Harald Kujat: Man muss dabei auch das ukrainische Interesse sehen. Der amerikanische Präsident hat nicht nur einmal, sondern mehrmals gesagt, er sei nicht bereit, diese Freigabe zu erteilen, und zwar – wörtlich – weil er einen dritten Weltkrieg vermeiden möchte. Nun muss man sich fragen, ist das nicht mehr sein Ziel? Weshalb hat er diese Freigabe erteilt? Ich habe den gewählten amerikanischen Präsidenten Trump gehört, der gesagt hat, wir waren noch nie so nahe an einem dritten Weltkrieg wie heute.

Weltwoche: Ist das real? Oder Panikmache?

Kujat: Ich will nicht zu denen gehören, die die Situation noch stärker dramatisieren, als sie tatsächlich ist. Man muss es aber, wenn wir die Frage daran messen, was Präsident Biden zuvor gesagt hat. Dann ist es tatsächlich so, dass wir näher an einer solchen Situation sind, als wir das jemals zuvor waren.

Weltwoche: Wie erklären Sie sich den Entscheid? Was ist das Motiv der USA?

Kujat: Die amerikanische Regierung sagt, es gehe darum, Nordkorea zu zeigen, dass seine in der Region Kursk eingesetzten Truppen verwundbar sind. Mich überzeugt diese Aussage nicht, denn das Kontingent der Nordkoreaner ist nicht kriegsentscheidend. Vielmehr ist es ein Eingehen auf eine Forderung des ukrainischen Präsidenten, die er seit vielen Monaten immer wieder erhoben hat und die immer wieder abgelehnt wurde. Eigentlich ist es der Versuch, einen Ausweg zu finden aus einer katastrophalen militärischen Lage.

Weltwoche: Warum trifft ein abtretender Präsident noch eine potenziell so weit reichende Entscheidung?

Kujat: Es hat einige Zeit den Versuch gegeben, vor allem der Briten und Franzosen, Biden zu dieser Entscheidung zu bewegen. Der britische Premierminister war am 13. September zum Antrittsbesuch in Washington, mit diesem Hauptanliegen. Und er ist damit bei Biden gescheitert. Für die amerikanische Position haben zwei Aspekte eine Rolle gespielt. Erstens: Die Freigabe dieser Waffensysteme wird eine grundlegende Änderung der Kriegslage nicht bewirken. Zweitens: Die USA befürchteten, dass Russland dann einen anderen Staat befähigen würde, Angriffe auf US-Stützpunkte etwa im Mittleren Osten oder auch in Europa durchzuführen. Drittens: Auf eine frühere, ähnliche Freigabe in der Region Charkiw erfolgte keine russische Reaktion. Dazu muss man im Hinterkopf haben, dass die amerikanische Eskalationsstrategie und die russische sich diametral unterscheiden. Die Amerikanische erfolgt in kleinen Schritten. Man macht einen Schritt vorwärts, wartet ab, ob der Gegner reagiert oder ob die Reaktion zu vernachlässigen ist. Dann kommt der nächste Schritt. Die russische Toleranzschwelle ist wesentlich höher, aber wenn sie überschritten wird, schlagen die Russen hart und brutal zurück. Das Problem besteht darin, dass niemand weiss, wo diese Toleranzschwelle der Russen liegt.

Weltwoche: Wissen Sie, wo sie liegt?

Kujat: Mein Eindruck ist, wir haben sie erreicht.

Weltwoche: Aber was treibt die Amerikaner?

Kujat: Ich sehe nur eine vernünftige Erklärung: Frustration. Frustration darüber, dass die Vereinigten Staaten ihr strategisches Ziel ganz offensichtlich und für sie inzwischen auch erkennbar nicht erreichen können, nämlich die politische, wirtschaftliche und militärische Schwächung Russlands. Hinzu kommt die Befürchtung, dass die Ukraine gemeinsam mit den Vereinigten Staaten eine militärische Niederlage erleidet. Und der Nochpräsident will nach dem fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan in seiner Amtszeit keine zweite militärische Niederlage erleiden. Wir sind also in der brandgefährlichen Situation, dass alle Menschen, die Sicherheit und Frieden in Europa wollen, auf Putin und Trump zählen müssen. Auf Putin in der Hoffnung, dass er nicht überreagiert. Und auf Trump, dass es ihm gelingt, die Entscheidung seines Vorgängers so schnell wie möglich rückgängig zu machen.

Weltwoche: Was ich überhaupt nicht verstehe, ist die passive Haltung der Europäer. Sie würden von einer Eskalation doch als Erste betroffen.

Kujat: Es ist ein europäischer Krieg. Wenn er ausgeweitet wird, findet er auf europäischem Boden statt. Die beiden nuklearen Supermächte werden versuchen, zu vermeiden, dass es zu einem nuklearen Schlagabtausch zwischen ihnen kommt.

Weltwoche: Wurden europäische Regierungschefs in die amerikanische Entscheidung eingeweiht? Oder wurde das von Washington ex cathedra so verfügt?

Kujat: Den Eindruck habe ich. Am 18. Oktober gab es in Berlin ein kurzes Treffen von Biden, Scholz, Macron und Starmer. An den Aussagen des Kanzlers können Sie ermessen, dass er eines erkannt hat: Es ist die Absicht des ukrainischen Präsidenten, die Nato, den Westen in diesen Krieg hineinzuziehen. Das ist für ihn der einzige Ausweg aus der kritischen Lage der Ukraine. Scholz hat danach gesagt, wir müssen vermeiden, dass es zu einem Konflikt zwischen der Nato und Russland kommt. Das bedeutet aus meiner Sicht auch, dass sich diese vier Staatsoberhäupter darauf geeinigt haben, keine weitreichenden Waffen zu liefern.

Weltwoche: Müsste ein deutscher Bundeskanzler da nicht deutlicher auftreten?

Kujat: Wir sind ja nicht zum ersten Mal duckmäuserisch. Ich denke nur an Nord Stream 2 und Ähnliches. Aber hier geht es um existenzielle Dinge. Da müsste ein deutscher Kanzler unserem engsten Verbündeten sagen: Moment mal, so hatten wir das nicht abgestimmt, und das ist nicht im deutschen Interesse. Ich bin dagegen. Hinzu kommt, dass wir in Europa nie eine Strategie zur Beendigung des Krieges hatten. Obwohl uns von Anfang an klar war, es geht hier auch um eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung, in der sowohl die Ukraine als auch Russland ihren Platz haben müssen.

Weltwoche: Ich will Scholz nicht in Schutz nehmen, aber wie gross ist denn der Spielraum eines Kanzlers in dieser Lage?

Kujat: Der Spielraum eines deutschen Bundeskanzlers ist so gross, wie er ihn selbst bestimmt. Zwei Beispiele. Gerhard Schröder, der gesagt hat: An dem Irakkrieg nehme ich nicht teil. Und Helmut Kohl, der den USA nicht einmal erlaubt hat, in Deutschland gelagerte Munition für einen Krieg abzuziehen. Wir können schon den Spielraum unserer Souveränität voll ausnutzen.

Weltwoche: Wie erklärten Sie sich, dass die deutschen Mainstream-Medien die jüngste Entwicklung so klein spielen?

Kujat: Spätestens seit Anfang November letzten Jahres müsste allen klar sein, dass dieser Krieg militärisch für die Ukraine verlorengeht. Also hat man die Sache schön geredet oder die ukrainische Desinformation übernommen. Wir haben uns in eine Sackgasse manövriert. Die EU hat nicht die Kraft, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Wir haben nicht die Kraft, eine eigene Strategie zu entwickeln, die unsere Sicherheit gewährleistet. Wir konzentrieren uns immer nur darauf, was die Regierung in Kiew will. Aber die Bevölkerung dort ist schon lange kriegsmüde. Sie will den Krieg beenden. Das dringt bei uns nicht durch.

Weltwoche: Ich sehe da in Deutschland dieses militärische Analphabetentum, vor allem bei der Debatte um den Taurus. Wissen Politiker oder Journalisten denn nicht, was das bedeutet?›››

Kujat: Ich finde es erstaunlich, dass unsinnige Forderungen gestellt werden und dass das dann die Mehrheit im Bundestag dafür stimmt, dass Deutschland sich dem Risiko der Vernichtung aussetzt. Mit dem Taurus machen wir den Schritt von der indirekten zur direkten Kriegsbeteiligung. Wer das nicht versteht, der hat es nicht verdient, ein politisches Amt auszuüben. Und wer trotzdem sagt: Wir machen das, was immer die Konsequenzen sind; der gehört völlig aus der Politik zurückgezogen. Dies ist nicht nur eine Frage der Inkompetenz oder der Ideologie oder der Ignoranz, es ist eine sträfliche Verantwortungslosigkeit gegenüber der Sicherheit der eigenen Bevölkerung. Das dürfen wir nicht erlauben. Historiker diskutieren noch heute, wie es zum Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, kommen konnte. Ist es uns wirklich egal, ob Historiker in einigen Jahren fragen werden, wie dieser Ukraine-Krieg zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden konnte?

Weltwoche: Also ernste Parallelen zum Ersten Weltkrieg?

Kujat: Der Erste Weltkrieg ist auch deshalb ausgebrochen, weil wir in unserer teutonischen Loyalität gegenüber einem engen Verbündeten, Österreich-Ungarn, eingestiegen sind. Heute ist die Situation durchaus ähnlich. Wir empfinden eine Loyalität gegenüber der Ukraine, weil sie angeblich die gleichen Wertvorstellungen hat. Es sind moralische Überlegungen. Und dann höre ich von Politikern Sätze wie: Die Ukraine wird siegen, weil sie siegen muss. Das erinnert mich an eine ganz andere Phase der Geschichte. Diese Menschen sind nicht nur militärisch völlig unbedarft, sondern sie haben auch kein historisches Bewusstsein. Jeder Leutnant lernt bei uns in der Lagebeurteilung, auch die Lage des Gegners vorurteilsfrei präzise darzustellen, um dann auch zu einer Entscheidung zu kommen, die der tatsächlichen Lage angemessen ist. Aber wenn ich die Dinge immer nur durch die rosa Brille sehe, dann komme ich zu keiner Entscheidung, die der tatsächlichen Situation entspricht.

Weltwoche: Bräuchten die Amerikaner nicht ein wenig mehr europäischen Widerstand, etwa um daran zu reifen? Wir können ihnen schlecht vorwerfen, ihre eigenen Interessen im Blick zu haben. Aber was ist mit unseren?

Kujat: Meine Erfahrung ist, dass man mit den Amerikanern durchaus kontrovers diskutieren kann, dass sie sogar erwarten, dass man seine eigenen Interessen vertritt, weil sie das schliesslich selber tun. Duckmäusertum wird in der Weltpolitik von niemandem akzeptiert, sondern von allen ausgenutzt.

Weltwoche: Wie, glauben Sie, wird Moskau auf die jüngste Eskalation durch die USA reagieren?

Kujat: Ich neige nicht dazu, zu spekulieren. Ich hoffe wirklich, dass Putin rational und massvoll reagiert. Aber dass er reagiert, davon bin ich überzeugt. Wir haben ihn in eine Situation gebracht, vor der er ja lange gewarnt hat, und aus der er im Grunde genommen nicht unbeschädigt herausgehen kann, wenn er nicht reagiert. Putin muss in zwei Richtungen denken. Einmal im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Hier wurde die interkontinentale nuklearstrategische Komponente zu 95 Prozent in höhere Einsatzbereitschaft versetzt. Ich kann nur sagen, welche Optionen er hat. Er wird nicht direkt reagieren auf die Vereinigten Staaten, sondern er kann indirekt reagieren, etwa indem er Angriffe durchführt gegen Einrichtungen von Staaten, die einen nicht allzu hohen Eskalationscharakter haben. Das ist ja immer die Frage bei diesen Eskalationen. Wie reagiert der Gegner? Moskau kann aber auch etwa den Iran in die Lage versetzen, amerikanische Ziele im Mittleren Osten anzugreifen. So deute ich die Erklärung des russischen Aussenministeriums, in der es hiess: Wir haben eine Liste mit potenziellen Zielen als Reaktion auf das westliche Vorgehen.

Weltwoche: Und dann?

Kujat: Eine russische Reaktion führt zu einer westlichen Reaktion. Und dann setzt sich diese Eskalationsschraube in Bewegung. Wir müssen vorher in die Schraube hineingreifen. Carl von Clausewitz hat gesagt: Der Krieg ist ein Akt der Gewalt. Einer gibt dem anderen vor, was er tun wird, und das Ganze führt dann zum Äussersten. Das Äusserste ist es, was wir unbedingt verhindern müssen. Das ist die Verantwortung unserer Politiker.

Weltwoche: Ich war auf der Waldai-Konferenz in Sotschi und habe dort Putin erlebt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er ein Eskalationsfanatiker ist.

Kujat: Die Russen denken hier sehr konservativ. Putin hat selbst einmal gesagt: Wir sind nicht verrückt, wir wissen, was ein Nuklearkrieg bedeutet. Und ich bin davon überzeugt, dass er es weiss. Aber viele bei uns wissen es nicht. Im Westen wechseln Regierungen, wie jetzt in den USA. Trump hat gesagt: Wir müssen den Krieg, das Töten beenden, und ich werde das tun. Inzwischen sind Einzelheiten seines Friedensplans durchgesickert. Sehen wir die künftige amerikanische Regierung unter Trump als Friedensstifter.

Weltwoche: Vielleicht, ich spekuliere mal, wartet ja auch Putin auf Trump und eskaliert erst mal nicht. Vielleicht sieht er in Biden einen schwachen Präsidenten, der nicht als Verlierer – in Afghanistan, in der Ukraine – in die Geschichtsbücher eingehen will.

Kujat: Es könnte durchaus sein. Aber es gibt einen anderen Aspekt, der uns betrifft. Wir kennen die Ziele des künftigen amerikanischen Präsidenten. Es gibt Kräfte in unserem Land, die sich gegen Trump stellen und versuchen, die erklärte Politik des künftigen amerikanischen Präsidenten zu torpedieren. Das ist unser engster Verbündeter, und wir halten die transatlantische Partnerschaft immer sehr hoch in Deutschland.

Weltwoche: Und sie kommt ausgerechnet aus Kreisen, die sich als die grössten Transatlantiker bezeichnen.

Kujat: Genau, die Lordsiegelbewahrer der transatlantischen Partnerschaft.

Weltwoche: Vorübergehend wurde ein Austausch des SPD-Kanzlerkandidaten von Scholz zu Boris Pistorius diskutiert. Welche Auswirkungen hätte das auf die Ukraine-Politik gehabt?

Kujat: Das würde nichts grundlegend verändern. In der Ukraine-Frage hat Scholz rational, strategisch, richtig und politisch klug gehandelt. Und das sollten ihm die Bürger auch honorieren. Ich glaube, die Bürger sind klüger, als die Politik sie einschätzt. Ich glaube, sie verstehen ganz genau, dass Scholz die Ukraine unterstützt, aber in einer Weise, dass er eine bestimmte Grenze nicht überschreitet. Diese Grenze wäre mit dem Taurus überschritten. Das ist, als ob Sie einen Kleinwagen mit einem Porsche vergleichen. Das ist eine völlig andere Kategorie. Diese Entscheidung bedeutet einen grundlegenden Wandel des Krieges. Wenn wir diese Entscheidung treffen, sieht die Welt am nächsten Tag anders aus als davor.

 

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