Die jüngste Salve feuerte John Bolton ab. Für den ehemaligen Sicherheitsberater von Donald Trump ist es an der Zeit, dass die Schweiz ihre Neutralität überdenke. Schon länger steht sie unter gewaltigem Druck. Doch nicht nur im Ausland wird die Neutralität nicht mehr verstanden. Auch hierzulande arbeiten Politiker und Beamte daran, diese auf dem Altar einer Nato-Anbindung zu opfern.

Eine wichtige Rolle hierbei spielt das Aussendepartement (EDA) von Bundesrat Ignazio Cassis, der seit 2022 keine Gelegenheit auslässt, um der Ukraine zu Hilfe zu eilen. Nicht besser sieht es im Verteidigungsdepartement (VBS) von Viola Amherd aus, wo man ebenfalls eine «Zeitenwende» zu beobachten meint.

 

Von der CIA fasziniert

Künftig will man dort noch enger mit der Nato kooperieren. Intellektuelle Schützenhilfe erhalten die Neutralitätsgegner etwa von Alt-Botschafter Theodor Winkler. Er sieht die Welt von den «vier Diktaturen» Russland, Iran, China und Nordkorea bedroht. Winkler, der als Vater der drei Genfer Sicherheitszentren des Bundes gilt, erachtet eine intensivierte Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato und der EU als «wichtige Schritte».

Flankiert werden diese Positionen von fast allen grossen Verlagshäusern. Sie haben längst ihre Abgesänge auf die Neutralität angestimmt. Doch es gibt auch Widerstand gegen diese Entwicklungen. Gleich mehrere Alt-Botschafter schlagen inzwischen Alarm.

Frischer Wind kommt aus der Westschweiz, wo Georges Martin, einstige Nummer drei im EDA, gerade ein interessantes Buch veröffentlicht hat. In seiner Autobiografie «Une vie au service de mon pays» lässt der ehemalige Botschafter seine EDA-Karriere Revue passieren und rechnet gleichzeitig mit der Aussenpolitik von Aussenminister Ignazio Cassis ab, der in seinen Augen 2023 niemals mehr als Bundesrat hätte gewählt werden dürfen.

«An der Spitze unserer Diplomatie haben wir wahrscheinlich den wankelmütigsten und undurchschaubarsten Aussenminister, den wir je hatten!», schreibt Martin in seiner Schrift, die gespickt ist mit pikanten Details zur helvetischen Diplomatie der letzten Jahrzehnte.

«Das EDA betreibt Aussenpolitik bloss noch als Kommunikation, als eine Art Show.»Martin dürfte wissen, wovon er spricht. Er arbeitete seit Beginn der 1980er Jahre im Aussendepartement. Als Schweizer Botschafter war er unter anderem in Indonesien und Kenia tätig. Ex-Aussenminister Didier Burkhalter (FDP) diente er als stellvertretender Staatssekretär. 2017 beendete er seine EDA-Karriere.

Seither ist viel passiert. Laut Martin erlebt Europa gerade die «schlimmste Sicherheitskrise seit 1945». Und was macht die Schweiz? Sie handle planlos. «Cassis agiert wie ein Flugzeugkapitän, der nicht weiss, wohin die Reise geht», sagt der Ex-Botschafter gegenüber der Weltwoche. Dabei bräuchte es gerade jetzt starke Staatslenker. «Schliesslich deutet vieles darauf hin, dass die Nato daran arbeitet, die Schweiz näher an sich zu binden.»

Umso wichtiger sei jetzt eine standhafte Regierung. Doch insbesondere im VBS sässen Nato-affine Beamte in den Spitzenpositionen. Cassis sei zu schwach, um hier Gegensteuer zu leisten. «Meine Hypothese, die durch Informationen aus dem Inneren des EDA bestätigt wurde, lautet: Der Aussenminister steht unter der Fuchtel von Generalsekretär Markus Seiler. Ohne ihn läuft scheinbar fast nichts. Das soll Cassis selbst intern zugegeben haben.»

Alle zentralen Entscheidungen im EDA trügen Seilers Handschrift. Von einer Aussenpolitik der Guten Dienste verstehe Seiler wenig. «Als ehemaliger Chef des Schweizer Nachrichtendienstes ist er wahrscheinlich immer noch von der CIA fasziniert. Er unterhielt während vieler Jahre enge Kontakte zu den westlichen Geheimdiensten. Der Wechsel des Departements ändert daran nichts.» Eine neutrale Aussenpolitik sei sicher nicht seine erste Priorität.

Wenig Verständnis hat der Ex-Botschafter für die von Cassis angekündigte Ukraine-Friedenskonferenz – eine solche kündete der Aussenminister Anfang Jahr beim gemeinsamen Treffen mit Wolodymyr Selenskyj in der Schweiz an. «Hier hat das EDA alles falsch gemacht, was man falsch machen kann: Zuerst machte sich Bern das Selenskyj-Narrativ zu eigen. Und dann kündigten Cassis und Co. gross die Konferenz an, ohne etwas in der Hand zu haben.»

Mit seiner Kritik ist Martin nicht allein. Ähnlich sieht es Paul Widmer, der Schweizer Botschafter auf dem Balkan (Kroatien) und im Nahen Osten (Jordanien) war und sich mit der heiklen Arbeit eines Diplomaten in Krisengebieten auskennt wie nur wenige in der Bundesverwaltung. «Um Gute Dienste leisten zu können, sind zwei Punkte zentral: Unparteilichkeit und Diskretion. Gegen beides hat der Bundesrat verstossen», sagt Widmer.

Die Ankündigung des Gipfels am Rande des Weltwirtschaftsforums sei ein Fehler gewesen. Je diskreter der Bundesrat handle, desto grösser seien die Chancen für einen diplomatischen Erfolg. Zudem sei das Ganze ohne eine Teilnahme Russlands von Anfang an wenig erfolgversprechend. Deutlich mehr Verständnis hatte der Alt-Botschafter noch für die Wiederaufbaukonferenz in Lugano 2022. «Sie war ein guter Anfang.»

Auch David Vogelsanger, ehemaliger Schweizer Botschafter in Neuseeland, zeigt sich pessimistisch: «Neutrale Vermittlung bedingt, für beide Seiten glaubwürdig zu sein.» Ein sogenannter Friedensgipfel liesse sich nicht «auf der Basis der Kriegsziele der angegriffenen Partei» organisieren. Für einen diplomatischen Erfolg müsse man diskret vorgehen. «Nur der bescheidene, stille Vermittler hat Aussicht auf Erfolg.» Keinen Platz hätten hierbei «laute Ankündigungen», wie sie Cassis vorgenommen hat.

Jean-Pierre Vettovaglia, ehemaliger Schweizer Botschafter in Bukarest, bringt noch einen weiteren Aspekt ins Spiel: «Selenskyj hat nicht vor, mit Putin zu verhandeln, solange er an der Macht ist.» Der ukrainische Präsident habe sogar ein entsprechendes Gesetz erlassen. Trotzdem wolle Cassis offenbar als Selenskyjs Helfer einspringen und Verhandlungen ohne Russland aufgleisen. «An Widersprüchlichkeit ist das kaum mehr zu überbieten. Die Schweizer Diplomatie steht kopf. Sie ist völlig irrational geworden.»

 

«Stumpfes Instrument»

Einig sind sich die Ex-Botschafter auch in einem weiteren Punkt: Es war ein Fehler, dass die Schweiz EU-Sanktionen gegen Russland übernommen hat. Widmer, der sich in mehreren seiner Bücher ausführlich mit der Geschichte der Schweizer Neutralität befasst hat, sieht in den gegenwärtigen Russland-Sanktionen der Schweiz eine aussenpolitische Zäsur. «Die vollständige Übernahme der EU-Sanktionen hat der Neutralität stark geschadet. Als Vermittlerstaat spielen wir nun für die Grossmächte keine Rolle mehr. Sogar die US-Regierung sagte, dass die Schweiz nicht mehr neutral sei. Das muss uns schon zu denken geben.»

Der Alt-Botschafter ist überzeugt: Die Aufrechterhaltung des courant normal inklusive Umgehungsverhinderungsmassnahmen wäre für die Schweiz besser gewesen. «Somit wäre der Handel auf das Niveau beschränkt worden, das vor dem Erlass der Sanktionen herrschte. Und damit hätte der Bundesrat weiterhin eine konstante Linie verfolgt.»

Vogelsanger spricht im Zusammenhang mit den EU-Sanktionen, denen sich die Schweiz angeschlossen hat, gar von einem schweren «Sündenfall». Die Sanktionen seien ein «stumpfes Instrument». «Im konkreten Fall scheinen sie der Wirtschaft der EU mehr zu schaden als der russischen.»

 

Liebeserklärungen an Kiew

Fast identisch sieht das auch Neutralitätsverfechter Georges Martin. Was seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 geschehen sei, habe mit einer neutralen Aussenpolitik der Guten Dienste nichts mehr zu tun. Bern hätte die EU-Sanktionen gegen Russland niemals eins zu eins mittragen dürfen. In der Kommunikation habe es an diplomatischem Fingerspitzengefühl gemangelt. «Das EDA betreibt Aussenpolitik bloss noch als Kommunikation, als eine Art Show. Die ständigen Liebeserklärungen an die Adresse von Selenskyj sind komplett fehl am Platz.»

«Cassis hat den Boden vorbereitet, auf dem die Schweiz sich als neutraler Vermittler obsolet gemacht hat.»Und woher kommt dieser Drang, sich auf der geopolitischen Arena inszenieren zu wollen? Jean-Pierre Vettovaglia scheint eine leise Vorstellung davon zu haben: «Der Aussenminister will eine Rolle spielen auf der grossen Bühne der Weltpolitik und die Schweiz als Musterschüler präsentieren. Er inszeniert sich als grosser Friedensgipfel-Aussenminister.» Vettovaglia sieht bei Cassis Parallelen zum früheren Schweizer Aussenminister Flavio Cotti. «Auch er glaubte, er könne auf der halben Welt Konflikte lösen.» Bei Cassis sei diese einstige Cotti-Utopie zu beobachten.

Das Problem jedoch sei: Anders als zu Cottis Zeiten werde die Schweiz heute nicht mehr ernst genommen in Sachen Diplomatie. Eine wesentliche Schuld daran trage der heutige Aussenminister selbst. «Cassis hat den Boden vorbereitet, auf dem die Schweiz sich als neutraler Vermittler obsolet gemacht hat.» Genf als einstiges Mekka der Diplomatie gehöre inzwischen der Vergangenheit an.

Kann dieser schleichende Ausverkauf der Neutralität noch gestoppt werden? Für Georges Martin jedenfalls steht fest: Möglich ist das nur mit Engagement: «Nun ist es an den Schweizer Bürgern, aktiv zu werden. Eine weitere Nato-Annäherung ist nur über sie zu stoppen. Ohne Druck von unten werden die politischen Eliten keinen Millimeter weichen.»