Walter Keller, der Begründer legendärer Zeitschriften (Der Alltag, Parkett) und Erfinder des famosen Scalo-Verlags, starb vor neun Jahren. In Roger Schawinskis neuem Buch «Finn und Anuschka» lebt er als Gigolo wieder auf. Keller soll betuchten Damen Avancen gemacht haben, darunter Schawinskis Gattin Gabriella Sontheim (ihr freilich umsonst). Nach seinem Bankrott sei Keller fast verhungert, schreibt Schawinski. Die grossherzige Gabriella habe ihn vor dem Tod bewahrt. Als Keller wieder zu Kräften gekommen sei, habe er zu reden begonnen: über den Verleger Peter Haag und dessen Ehefrau, die Journalistin Anuschka Roshani.

Zuverlässig fallen Schamgrenzen

Roshani ist Anfang Februar einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgeworden, als sie ihren ehemaligen Vorgesetzten, den früheren Magazin-Chefredaktor Finn Canonica, via Spiegel mit oMeToo-Vorwürfen eindeckte. Schawinski hält diese Vorwürfe für erstunken und erlogen. Der Befund ist überzeugend, die Beweisführung weniger. In kürzester Zeit hat Schawinski ein Buch geschrieben, um Roshanis Version zu widerlegen. Alle Fäden in «Finn und Anuschka» laufen bei Schawinski zusammen – als wär’s ein Stück von ihm. Der Autor ist Ankläger, Aufklärer, Richter und moralische Instanz zugleich.

Und sein eigener Verleger. Niemand wollte sich am Manuskript die Finger verbrennen, behauptet Schawinski, also habe er das Buch selber herausgebracht. Kein Wunder, waren die professionellen Kollegen skeptisch: Die gesellschaftliche Brisanz des Falls handelt Schawinski auf dem Niveau eines Kinderbuchs ab – das Phänomen «Woke» erklärt er mit Wikipedia.

Am Exempel des toten Walter Keller veranschaulicht Schawinski das Geschäftsmodell von Peter Haags Verlag Kein & Aber: die «Ausnutzung des schlechten Gewissens der Superreichen». Auch die Reinharts, einstige Mitbesitzer des renommierten Suhrkamp-Verlags, werden als Zeugen zitiert: Sie hätten «ihr von den Ahnen erworbenes schmutziges Geld» in der Kultur reingewaschen und so ihr «Karma» gepflegt, weiss der Autor zu berichten.

Die gesellschaftliche Brisanz handelt Schawinski auf dem Niveau eines Kinderbuchs ab.

Schawinskis Geld ist weder schmutzig noch ererbt. Sein Haus am Zürichberg nennt er «Villa Coninx». Er hat sie mit dem Erlös aus dem Verkauf seines Medienunternehmens an die Tages-Anzeiger-Besitzerfamilie finanziert. Später verlochte er 1,8 Millionen Franken als Miteigentümer von Kein & Aber. «Finn und Anuschka» liest sich streckenweise wie ein Nachschlag zu seiner Autobiografie.

Diese war bei Kein & Aber erschienen, wo auch – nicht zu verwechseln! – Schawinskis Bestseller «Ich bin der Allergrösste: Warum Narzissten scheitern» eine verlegerische Heimat fand. Ernsthaft stellt sich die Frage, ob der Autor sein Werk je gelesen hat. Ungehemmt huldigt Schawinski in «Finn und Anuschka» seinem eigenen Narzissmus. Den Hinweis, dass ihm der Spiegel eine Titelstory gewidmet hat, will er sich nicht verkneifen. Dass seine Blattkritik in der Spiegel-Redaktion etwas mit dem wenig später erfolgten Rauswurf des Chefredaktors zu tun haben könnte, dementiert er so penetrant, dass man fast daran zu glauben beginnt. Den Niedergang des Spiegels, der in das Debakel um den Roshani-Text mündete, habe er kommen sehen.

Zuverlässig fallen die Schamgrenzen. Wir begegnen dem Autor beim Spazieren mit der Frau von Ex-Fifa-Chef Joseph Blatter. Zum Bruch mit Haag war es gekommen, nachdem TV-Moderator Jörg Kachelmann vor Gericht die Einschwärzung ihn betreffender Äusserungen von Schawinski erstritten hatte. Die Rechnung über 8000 Franken mochten weder der Verleger noch sein Autor berappen, wie wir erfahren. Mit Schawinski gefragt: Who cares?

Der Autor will die Kampfzone der oMeToo-Debatte auf den Missbrauch weiblicher Diskurshoheit ausweiten. In Wirklichkeit betreibt er die Ausweitung der Klatschzone im kleinen Zürcher Medienmilieu. In mutmasslich ernsthafter Absicht zitiert er Emile Zolas Ausruf «J’accuse . . .!», als gehe es um einen Skandal von der Güteklasse der Dreyfus-Affäre. Es steht zu befürchten, dass er sich tatsächlich als Wahlverwandten des französischen Literaturtitanen sieht.

«Der kleine Finn»

Schawinski spürt allerlei eingebildeten Parallelen nach. Wie in der Ehe Haag-Roshani – beide Partner kommen schlecht weg – regieren in der Ehe Schawinski-Sontheim gleichgestrickte Verhaltensmuster, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, wie uns der Autor glauben machen will. Sontheim rettete den verhungernden Verleger Keller, der in Schawinskis Märchen ohne Happy End aus Verzweiflung stirbt. Schawinski nimmt den zu Unrecht angeklagten Chefredaktor Canonica unter seine Fittiche.

Was wohl «der kleine Finn» (Schawinski über Canonica) von seiner Überstilisierung zum Opfer – depressiv, suizidgefährdet, medikamentensüchtig – durch seinen schamlosen Anwalt hält? Immerhin kann sich Canonica gegen üble Nachrede wehren: Er hat gegen Roshani und den Spiegel geklagt. Walter Keller hingegen ist tot. Der Rufmord an ihm bleibt folgenlos.