Bitte verzeihen Sie mir die etwas zugespitzte Einleitung im Untertitel. Stellen Sie sich vor, in Deutschland gäbe es eine Fussballverbandschefin. Diese hätte an der WM 2014, als die Deutschen Weltmeister wurden, bei der Siegerehrung einen der Spieler spontan umarmt und ihm einen Kuss auf den Mund gedrückt.

Hätte das einen globalen Aufschrei ausgelöst? Wäre der Kuss als «übergriffig» oder «sexuelle Gewalt» eingestuft worden? Hätte jemand deswegen Anklage erhoben? Wahrscheinlich nicht; zum Glück nicht. Man hätte den Mundkuss höchstens als befremdlich und unangebracht empfunden. Küsse zwischen Menschen, die nicht in einer romantischen Beziehung stehen, sind üblicherweise auf die Wange oder die Stirn beschränkt. Ungefragt auf den Mund geküsst zu werden, das möchten die wenigsten. Es ist ein No-Go, weil ein Mundkuss als intimer gilt. Man hätte also den Schmatzer der Präsidentin als deplatziert bezeichnet, darüber gelacht, das Leben wäre weitergegangen.

Bei Luis Rubiales liegt die Sache ähnlich, jedoch ganz anders. Der ehemalige spanische Fussballverbandschef hat letztes Jahr bei der Zeremonie nach dem gewonnenen WM-Final die Spielerin Jennifer Hermoso nach einer Umarmung und einem Küsslein auf die Wange auch auf den Mund geküsst. Ihr habe das nicht gefallen, sagte die 33-Jährige, später darauf angesprochen, in einem Video. Nun wurde Rubiales angeklagt, bei einer Verurteilung drohen ihm mehrere Jahre Haft. Das Gericht sprach von einem Kuss «ohne Einvernehmen»; geklärt werde, ob ihm ein «erotischer Charakter» beigewohnt habe. Viel deute darauf hin, dass der Kuss «den Bereich der Intimität betrifft, der sexuellen Beziehungen» vorbehalten ist. Offenbar wird es auch eine mündliche Verhandlung wegen «sexueller Gewalt» geben.

Das ist der Punkt, an dem ich einfach froh bin, heutzutage kein männliches Wesen zu sein. War das Verhalten des Ex-Verbandschefs unangebracht? Definitiv ja! Es war falsch. Auch in einem Moment grösster Euphorie sollte man seine Gefühle unter Kontrolle haben und andere nicht in eine unangenehme Lage bringen. Das kann und sollte man kritisieren. Und der Mann wurde bestraft. Von den Journalisten, die tagelang Artikel schrieben, so dass man sich fragte, ob er ein Schwerverbrechen begangen habe, und die sich im Grossen und Ganzen einig waren, dass es in der Natur der beruflichen Machtposition des Mannes liege, die Frau für seine sexuelle Übergriffigkeit auszunutzen. Bestraft auch vom Verband; seinen Job ist er los. Aber Straftat?

Es ist ein Hohn für all jene Frauen, die sexuelle Gewalt tatsächlich erfahren.

Hier wird ein Kuss sexualisiert, der mit Sexualität wenig zu tun hat. Hinter einem spontanen Mundkuss, ausgeführt vor laufenden Kameras und einem Millionenpublikum, wo beide sich in einem Ausnahmezustand befinden, in dem Glückshormone Flamenco tanzen, kann ich beim besten Willen nichts Erotisches erkennen. Er hat ihr nicht seine Zunge in den Hals geschoben.

Auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass Rubiales dafür hinter Gitter wandert, so wirkt schon allein die mögliche Strafe am Ziel vorbeigeschossen. Es ist ein Unterschied, ob man eine Frau in einer dunklen Gasse spätnachts unaufgefordert küsst oder vor den Augen der Welt, in einem Moment der Freude, wo sie sich zu keiner Zeit in Gefahr befand. Nicht hinter jedem Kuss steckt eine verwerfliche Absicht. Wenn man einfach eine Schablone über alles stülpt – «Kein Einverständnis eingeholt? Straftat!» –, scheint mir das zu einseitig.

Der bittere Beigeschmack: Immer wieder hört man von Fällen sexueller Gewalt, bei denen die Täter keinen Freiheitsentzug oder verhältnismässig kurze Haftstrafen erhalten. Erst vergangenen November wurden in Hamburg Männer wegen Gruppenvergewaltigung einer Fünfzehnjährigen verurteilt; acht der zehn Täter erhielten Bewährungsstrafen, nur einer musste ins Gefängnis.

Wenn jetzt ein ungefragter, spontaner Freudenkuss pauschal als intime Gräueltat oder «sexuelle Gewalt» eingestuft wird, verwässert und entwertet dies den Begriff und ist ein Hohn für all jene Frauen, die sexuelle Gewalt tatsächlich erfahren.

Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Männern aufgrund eines kurzen Moments der Unachtsamkeit, bei dem niemand geschädigt wurde, Gefängnis droht. Ich möchte, dass Männer, die schreckliche Sexualverbrechen begehen, für lange Zeit weggesperrt werden.

 

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Die 3 Top-Kommentare zu "Bin ich froh, kein Mann zu sein"
  • yvonne52

    Genau so sehe ich das auch. Vor allem Gruppenvergewaltigungen werden viel zu lasch bestraft. Aber dann wegen einem öffentliche Kuss so ein Bohei zu veranstalten. Verkehrte Welt.

  • reining

    Bravo für diese Analyse, Frau Wernli! 👏

  • gabry

    Ich bin absolut einverstanden!