Erinnern Sie sich an den britischen Gesundheitsminister Matt Hancock, der mitten im Lockdown seine Geliebte Gina Coladangelo küsste und dabei gefilmt wurde? Die Briten sehen ihren Politikern Seitensprünge nach, nicht aber Verstösse gegen die von ihnen erfundenen Corona-Regeln («Social Distancing»). Hancock musste zurücktreten. Als wäre das nicht genug, trat er im «Dschungelcamp» auf und übergab der Journalistin Isabel Oakeshott, die seine Memoiren schreiben sollte, 100 000 interne Whatsapp-Nachrichten der Regierung. Die Journalistin war wegen des zynischen Inhalts so schockiert, dass sie ihn veröffentlichte. Inzwischen berichtet auch die BBC darüber.

«Angst- und Schuldfaktor»

Und da sind sie nun, die «Lockdown-Files», eine beispiellose Fundgrube, die tiefe Einblicke in das Denken und Handeln der Verantwortlichen erlaubt. So schrieb Hancock schon frühzeitig an den damaligen Premierminister Boris Johnson, die Gesamtsterblichkeit durch das Coronavirus sei «praktisch bedeutungslos». Dieser antwortete zustimmend, er würde selbst als Achtzigjähriger lieber geringe Risiken in Kauf nehmen, als die gesamte Wirtschaft zu zerstören. Offenbar hielt Johnson nichts von einem Lockdown und ordnete ihn gleichwohl an, weil andere Länder dasselbe taten und die öffentliche Stimmung danach war. Unabhängig hiervon ist die Hypothese, das Kabinett habe tatsächlich an ein aussergewöhnlich gefährliches Virus geglaubt und erst in der Rückschau seinen Fehler erkannt, durch den Meinungsaustausch der Regierungsmitglieder widerlegt.

«Wann sollen wir die neue Virusmutation einsetzen? Damit werden wir sie alle schockieren.»

In einer weiteren Whatsapp betonte Kabinettssekretär Simon Case, entscheidend für die Durchsetzung der Lockdowns sei der «Angst- und Schuldfaktor». Als Protest gegen weitere Lockdowns aufkam, fragte Hancock: «Wann sollen wir die neue Virusmutation einsetzen?», und geriet in Euphorie: «Damit werden wir sie alle total schockieren.» Hernach wurde die Mutation Alpha lanciert, um das Weihnachtsfest 2020 abzusagen. Die Parallelen zum deutschsprachigen Raum sind faszinierend: Auch bei uns haben Virologen, Politiker und Journalisten anfangs behauptet, Corona sei gerade deshalb so schlimm, weil es sich um ein völlig neuartiges Virus handle. Später aber stilisierten sie jede Mutation des nunmehr bekannten Virus zu einer noch grösseren Bedrohung hoch. Der Widersinn dieses rhetorischen Kniffs fiel wenigen auf.

Die vielleicht interessanteste Passage betrifft das Zusammenwirken von Regierung und Leitmedien. Sie erklärt, warum nicht nur der Staatsfunk sinnfreie Massnahmenpropaganda verbreitete, sondern auch alle führenden Zeitungen, die sich überwiegend in Privatbesitz befinden und im Wettbewerb miteinander stehen. Als im Frühsommer 2020 die Fallzahlen sanken, weil es wärmer wurde, bat Gesundheitsminister Hancock den Herausgeber des Evening Standard, George Osborne, um einen Gefallen. Er schrieb ihm per Whatsapp, die sinkende Inzidenz sei zwar gesundheitspolitisch positiv, erschwere ihm aber, sein Ziel zu erreichen. Ob die Zeitung nicht helfen könne, eine neue Testwelle und somit steigende Fallzahlen herbeizuführen. Osborne antwortete, das sei kein Problem, er brauche im Gegenzug nur einige exklusive Sätze des Ministers und würde dann die gewünschten Schockartikel und Testappelle schreiben lassen.

Merkels traute Journalistenrunde

Mithin war dies ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, das fatal an die Standleitung erinnert, die in der Schweiz zwischen dem Ministerium Alain Bersets und dem Ringier-Verlag geschaltet war. Auch hier erhielt ein Zeitungsverlag exklusive und frühzeitige Informationen und lieferte im Gegenzug Panikmache und Lobgesänge auf die Freiheitsbeschränkungen. Und in Deutschland lagen die Dinge mit dem von der Neuen Zürcher Zeitung enthüllten «Linsensuppen-Format» der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht viel anders. Merkel lud jeweils vor den berüchtigten Konferenzen der Ministerpräsidenten handverlesene Journalisten ein, um ihnen die zu fassenden Beschlüsse und die dafür angeblich bestehende Notwendigkeit einzuimpfen. Die so privilegierten Journalisten sorgten schon vor Beschlussfassung für die passende öffentliche Stimmung und konnten ihre Leitartikel in Ruhe formulieren, während kritische Kollegen erst später die für ihre Arbeit unentbehrlichen Informationen erhielten.

Insgesamt bestätigen die durchgestochenen Informationen die schlimmsten Befürchtungen. Sie dürften selbst Hartgesottene überzeugen, dass Corona keine medizinische Tragödie war, sondern eine politische und mediale.

Stefan Homburg ist emeritierter Professor für Öffentliche Finanzen der Leibniz-Universität Hannover. Sein Buch «Corona-Getwitter» erschien kürzlich im Weltbuch-Verlag.