Die sexuelle Revolution ist gescheitert. Sie hat Frauen zwar gewisse Freiheiten verschafft, aber am meisten profitieren von einer sexuellen Kultur, in der alles erlaubt ist und nur das Einverständnis zählt, die Männer. Das schreibt die britische Autorin Louise Perry in ihrem Buch «The Case Against the Sexual Revolution». Seitens des modernen Feminismus gebe es nun einen Druck für Frauen, sich sexuell so zu verhalten wie Männer: Gelegenheitssex haben, One-Night-Stands, und dabei keine Gefühle entwickeln, erklärt Perry dazu in diversen Youtube-Shows. Nur gelinge das den Frauen nicht, da sie sich schneller an einen Sexualpartner bänden und ein viel geringeres Bedürfnis nach unverbindlichem Sex hätten als Männer. «Indem man sie zur Imitation der männlichen Sexualität ermutigt, zwingt man sie, ihre Instinkte zu unterdrücken. Das ist psychologisch nicht gesund.» Perry spricht sich für ein sexuelles Umdenken aus, in dem «Würde und Zurückhaltung», besonders auch von Männern, die zentrale Rolle spielen. Die Journalistin argumentiert nicht aus einer religiös-konservativen, sondern aus einer, wie sie sagt, feministischen Perspektive.

Ihre These kann ich teilweise nachvollziehen. Ich weiss nur nicht, ob der Druck, sich das Sexualverhalten von Männern anzueignen, für Frauen tatsächlich so gross ist. Ich kenne keine Frau, die das so empfindet. Denn emanzipiert sein – wie wir modernen Frauen uns ja sehen – heisst doch eben auch, das zu tun, was einem selbst am meisten zugutekommt, und seine Entscheidungen unabhängig von den Einflüssen anderer zu treffen, auch die sexuellen. Dass die Hypersexualisierung der Gesellschaft auf Mädchen und junge Frauen teils sehr negative Auswirkungen hat, ist natürlich bekannt. Und anders, als man es vielleicht meinen könnte, glaube ich auch im Jahr 2022 nicht, dass wir uns alle so benehmen können, wie es uns gefällt, auch wenn mir ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität grundsätzlich sympathisch ist. In jeder Gesellschaft gibt es Grenzen und Grundsätze – darin sehe ich auch kein Problem.

Das Problem beginnt dort, wo man versucht, eine Erwartung zu signalisieren, die möglicherweise durch den Gewinn sexueller Freiheiten entstanden ist. Und da würde ich Perry zustimmen. Die sexuelle Revolution begann mit etwas, das die Rolle der Frau als selbstbestimmtes, autonomes Individuum massgeblich beeinflusst hat: der Pille. Der Start der Massenproduktion in den frühen 1960er Jahren befreite die Frauen aus dem sexuellen Korsett. Körper und Mutterschaft selbst zu kontrollieren, half ihnen, aus der ihnen zugewiesenen Rolle auszubrechen; sie konnten nun selbst familiäre und berufliche Entscheide treffen und zu aktiveren Mitgliedern der Gesellschaft werden. Aber sie setzte Frauen auch unter Druck, denn nun erwartete man von ihnen, «verfügbar» zu sein.

Der Druck zur ständigen sexuellen Bereitschaft (dem manche Frauen auch heute ausgesetzt sind) und auch die Ermutigung, Sex so auszuleben wie die Männer, plus die weiblichen Urinstinkte: Diese Rechnung geht tatsächlich nicht auf. Natürlich gilt das nicht für alle, aber die Mehrheit der Frauen sind keine auf Hochtouren laufenden Gefühlsentkoppelungsmaschinen. Es fällt ihnen schwer, Emotionen vom Körper zu lösen. Wenn anfangs zum Beispiel Gelegenheitssex «ohne Bedingungen» vereinbart wurde, so ist es doch häufig die Frau, die irgendwann mehr möchte. Oder die sich schnell schlecht fühlt, wenn er sich am Morgen danach ohne grosses Tamtam (und ohne je anzurufen!) aus dem Staub macht und sie in einem Durcheinander an Zweifeln zurücklässt. Das sind erniedrigende Erfahrungen, die fast jede Frau schon gemacht hat.

Ein klassischer Fall von sexuellem Missverständnis zwischen den Geschlechtern liegt dann vor, wenn Männer davon ausgehen, dass Frauen Sex genauso lieben wie sie selbst und überhaupt nicht verstehen können, warum sie so wenig davon haben, wo ihnen doch so viel Auswahl gegönnt ist – und manche von ihnen auch die Erwartung daran knüpfen, ihre eigenen erotischen Bedürfnisse entsprechend versorgt zu bekommen. Und auf der anderen Seite, wenn Frauen sich nach einer verweigerten Liebesbeziehung oder einem emotionslosen Akt ausgenutzt fühlen und ihm die Schuld dafür geben, auch wenn er nichts falsch gemacht hat, ausser vielleicht, nicht besonders feinfühlig zu sein, «kein Gentleman» zu sein, wie es Perry nennt.

Biologische Unterschiede führen zu unterschiedlichem Sexualverhalten. Für Frauen war Sex lange Zeit und vielerorts als Mittel der Fortpflanzung geprägt, für die es einen Partner zu suchen galt. Evolutionsbiologisch war Sex für sie auch viel riskanter; schwanger zu werden im Winter oder in Zeiten von Nahrungsnot, stellte sich als höchst problematisch heraus. Und auch wenn sich das später geändert hat, ist das wohl tief verwurzelt, so dass Sex für Frauen die Intensität einer Verbindung steigert.

Bestimmte Verhaltensweisen beim anderen Geschlecht nachzuempfinden versuchen, dürfte die Irrtümer ein Stück weit beheben. Denn Männer und Frauen ergänzen sich, allen Unkenrufen zum Trotz, doch eigentlich wunderbar.

 

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