Weltwoche: Sie haben zuletzt in Berlin, Rom, Paris und Madrid gearbeitet. Wie gut haben Sie sich in Schlieren eingelebt?

Roland Schell: In die Schweiz zu kommen, war mein Wunsch, weil ich das Land toll finde, mir gefällt die Landschaft mit Seen und Bergen, ich fahre sehr gerne Ski, und ich spreche zumindest drei der vier Landessprachen. Es fällt mir also leicht, mich hier schnell wohlzufühlen und Fuss zu fassen.

Weltwoche: Sie schauen mit einem frischen Blick auf die Schweiz: Was fällt Ihnen auf?

Schell: Ich erlebe ein sehr nettes Miteinander und finde, man spürt einfach, dass dies eine ausgewogene Gesellschaft ist. Es scheint viel weniger alltägliche Aggressivität zu geben als in Ländern wie Frankreich oder Italien beispielsweise.

Weltwoche: Manche Deutsche hadern mit der Reserviertheit vieler Schweizer. Sie auch?

Schell: Ich bin ein offener Typ, halb Franzose, halb Deutscher, und erlebe die Schweizer gar nicht als so reserviert. Und ich habe als Vertreter der Automobilbranche natürlich den Vorteil, immer Gesprächsstoff zu haben. Über Autos zu reden, ist ein guter Einstieg in jedes Gespräch.

Weltwoche: Sie gehören zu einer Gruppe von Top-Managern bei Mercedes-Benz, die alle paar Jahre das Land wechseln, um dort die Verantwortung für die Firma zu übernehmen. Welchen Stellenwert hat da die Schweiz?

Schell: USA, Schweiz, Italien gehören zu den gefragten Ländern im Konzern. Die Schweiz ist zentral in Europa gelegen, und hier funktioniert alles. Wir bieten bei Mercedes-Benz Produkte im Premiumsegment an, und dafür braucht es eine entsprechende Kundschaft. Die findet man hier natürlich. Wir möchten als Unternehmen insgesamt mehr in die höheren Angebotskategorien vorstossen. In der Schweiz sind wir da schon angekommen. Der Anteil von AMG-Fahrzeugen beträgt hierzulande fast 20 ​Prozent, und der durchschnittliche Fahrzeugpreis ist doppelt so hoch wie in den südlichen Ländern Europas.

Weltwoche: In Ihrer Funktion führen Sie ein Leben wie ein Spitzenfussballer: Nach ein paar Jahren an einem Ort folgt ein Transfer in ein völlig neues Umfeld. Wie geht man damit um?

Schell: Ich sehe mich als modernen Nomaden. Angefangen habe ich in Deutschland, dann einige Jahre in Frankreich, Italien und zuletzt sechs Jahre in Spanien und Portugal. Damit ich mich schnell einleben kann, gehe ich stets nach einem bestimmten Prozess vor: Wohnung, Schule für die Kinder und weitere Ankerpunkte für mich selbst in der Firma, aber auch für die ganze Familie. Mittlerweile ist das eingespielt. Ich wusste ein halbes Jahr im Voraus, dass ich in die Schweiz komme, und konnte mich gut organisieren.

Weltwoche: Die Automobilindustrie sieht sich grossen Herausforderungen gegenüber. Wo setzten Sie als Landes-Chef an?

Schell: Die Transformation hin zur Elektrifizierung der Fahrzeuge sowie die Digitalisierung sind die beiden grossen Herausforderungen, die wir haben. Wir bieten nun neun vollelektrische Modelle an mit Reichweiten von 400 bis knapp 800 Kilometern. Wir unterstützen unsere Kunden dabei, dass sie möglichst über eine Wallbox zu Hause laden können. Aber ich würde mir natürlich wünschen, dass die Politik hilft, mehr Ladeinfrastruktur zur Verfügung zu stellen. Nur dann werden diese Produkte vollständig angenommen. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, jetzt muss die öffentliche Infrastruktur nachgezogen werden.

Weltwoche: Warum ist das so wichtig?

Schell: Am Ende entscheidet der Kunde, ob ein Produkt erfolgreich ist. Und bei Elektroautos gehört die Ladeinfrastruktur einfach mit dazu. Wenn ich zudem höre, dass in der Schweiz die Einfuhrzölle auf E-Fahrzeuge Anfang 2024 von null auf 4 ​Prozent angehoben werden, bin ich ebenfalls skeptisch. Bevor diese Technologie breit etabliert ist, sollte man sie nicht schon staatlich verteuern.

Weltwoche: Die Schweiz ist ein Land von Mietern, Ladeinfrastruktur ist vor allem in diesem Kontext wichtig und nicht so sehr entlang den Autobahnen, oder?

Schell: Das stimmt. Und beim Laden zu Hause ist vieles noch zu kompliziert. Es geht ja nicht nur um Tiefgaragen. Es braucht auch Lademöglichkeiten in blauen Zonen zum Beispiel, wo viele Leute ihr Auto über Nacht parken.

Weltwoche: Der Staat betreibt ja auch keine Tankstellen, wieso sollte er Ladeinfrastruktur aufstellen?

Schell: Man könnte beispielsweise Tankstellenbetreiber verpflichten, je nach Grösse Ladesäulen zu installieren – so wie Autohersteller politisch auf die Spur Richtung E-Autos gelenkt wurden. Man kann nicht nur die Motorentechnologie vorschreiben. Der Rest muss schon auch geregelt werden. Ladeinfrastruktur ist nicht primär unser Metier.

Weltwoche: Zusammengefasst, hat die Politik Elektroautos gefordert, die Hersteller haben geliefert und dann gemerkt, dass alles nicht so einfach ist wie gedacht. Stimmen Sie dem zu?

Schell: Wir heben nicht erst jetzt den Mahnfinger. In diesem Jahr waren rund 20 ​Prozent der neu in der Schweiz zugelassenen Autos Elektroautos, was schon gut ist. Wenn es deutlich mehr werden sollen, wird es nicht funktionieren, wenn man einfach zuschaut und wartet. Die Politiker haben eine Technologievorgabe gemacht, wir haben geliefert, und jetzt muss auch von anderen investiert werden.

«Wir investieren bei Mercedes-Benz alleine sechzig Milliarden Euro in den nächsten Jahren.»Weltwoche: Hätte sich die Autoindustrie früher und vehementer gegen die technologische Einengung durch die EU-Politik wehren sollen?

Schell: Das Problem war ja, dass ständig neue Vorgaben kamen, welche die Transformation noch mehr beschleunigen sollten. Aber Entwicklungszeiträume in der Automobilindustrie betragen sechs bis sieben Jahre. Wir wollten das Thema Umwelt und CO2-Neutralität zusammen mit der Politik gestalten. Da war ja kein Hersteller dagegen, weil das auch vernünftig ist. Wir haben Gas gegeben, aber leider haben der Staat und andere Beteiligte ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Weltwoche: Welches ist die Aufgabe der Industrie?

Schell: Ich halte es für wichtig, dass wir Automobilhersteller als Teil der Lösung in der Mobilitätsfrage gesehen werden. Die europäischen Länder – inklusive der Schweiz – brauchen individuelle Mobilität, um ihren Wohlstand zu sichern. Dafür tun wir Hersteller sehr viel. Wir investieren sehr viel Geld in die Elektrifizierung und Digitalisierung. Bei Mercedes-Benz sind es alleine sechzig Milliarden Euro in den nächsten Jahren.

Weltwoche: Elektroautos haben viele Vor- und einige Nachteile. Wie ordnen Sie die Technologie gesamthaft ein?

Schell: Die Fahrleistung eines Elektroautos ist fantastisch, dazu kommen die Laufruhe und der entspannte Fahrkomfort. Das sind technologische Highlights. Und auch punkto Konnektivität und Digitalisierung müssen wir uns mit unseren E-Autos vor keinem anderen modernen Produkt verstecken. Aber am Ende entscheidet der Kunde, was er kauft. Und es gibt noch Liebhaber von Verbrennermotoren. Übrigens: Bei einem modernen Diesel-Hybriden von Mercedes-Benz kommen wir auf einen Verbrauch von unter drei Litern Treibstoff!

Weltwoche: Sie haben die Digitalisierung als grosses Thema erwähnt, worum geht es da?

Schell: Es geht einerseits um unser eigenes Mercedes-Benz Operating System (MB.OS), mit dem wir künftig alle Funktionen in unseren Fahrzeugen integrieren. Das Ziel ist erstklassige Nutzerfreundlichkeit und Datensicherheit. Es geht andererseits auch um neue Funktionen. Persönliche Infotainment-Inhalte wie Musik, Video und Gaming etwa stehen den Fahrzeuginsassen künftig einfach und in höchster Qualität auf unseren Bildschirmen zur Verfügung. Andere Fahrzeugfunktionen wiederum können als digitale Extras bei Bedarf aktiviert werden – etwa eine stärkere Hinterachslenkung, wenn ich durch enge Strassen in kleinen Ortschaften fahren oder einparken muss.

Weltwoche: Wann wird es so weit sein?

Schell: Das gibt es teilweise heute schon. Die Weiterentwicklung dieser Services ist aber eine grosse Herausforderung. Es braucht digitale Systeme, Speicherplatz, Cloud-Dienste und vieles mehr. Wir verstehen uns immer mehr als New-Technology- und IT-Unternehmen. Wir entwickeln und liefern längst neben der Hardware auch Software.

Weltwoche: Die neueste Idee aus Brüssel ist offenbar, jungen und älteren Menschen sowie SUV-Besitzern das Leben noch etwas schwerer zu machen und das Autofahren einzuschränken. Haben wir es mit einem Grossangriff auf die individuelle Mobilität zu tun?

Schell: Jeder sollte seine Freiheit geniessen können, solange er nicht die der anderen einschränkt. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch, deshalb gefällt es mir in der Schweiz so gut: Hier kann man dank der direkten Demokratie Einfluss auf die Politik nehmen – und gegebenenfalls auch die individuelle Mobilität verteidigen. Denn wie gesagt halte ich diese für einen wichtigen Faktor in unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft.

Weltwoche: Was sind Sie selbst für ein Autofahrer, eher entspannter Cruiser oder ständig auf der Suche nach der Ideallinie in jeder Kurve?

Schell: Ich kann beides, auf der Rennstrecke gehe ich gerne ans Limit, deshalb bin ich auf der Strasse ein sehr entspannter Autofahrer. In der Schweiz passt man bei den Geschwindigkeitslimiten sowieso besser auf.

Weltwoche: Ihr Tipp an Freunde und Familie: Welche Schweizer Strasse sollte man unbedingt befahren haben?

Schell: Über ein paar Pässe zu fahren, ist schon spektakulär. Da geht’s nicht ums Tempo, sondern darum, die Reise in einem schönen Mercedes-Benz zu geniessen – zum Beispiel auf den Klausen oder über den Brünig. Ich möchte aber noch mehr Richtung Engadin, das habe ich bisher noch nicht geschafft. Manchmal setze ich mich auch einfach ins Auto, fahre los und lasse mich überraschen, wo die Reise hinführt. Das geht in der Schweiz hervorragend.

 

Roland Schell, 60, seit Juni 2023 CEO von Mercedes-Benz Schweiz. Der gebürtige Deutsche mit französischem Pass arbeitet seit 1994 für den Automobilhersteller, zuletzt war er CEO von Mercedes Iberia. Schell verfügt über einen Doctor of Business Administration und einen International Executive Master in Leadership.