In der Klimapolitik spielt die Ernährung der Menschheit eine zentrale Rolle. Die Pflanzen- und Tierproduktion ist mit Treibhausgasemissionen verbunden, die Landwirtschaft wird wegen Umweltbelastung kritisiert, steht aber zugleich unter Druck, eine laufend wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, immer mehr zu produzieren. Drohen nun mehr Engpässe? Wir fragen den Schweizer Agrarökonomen Bernard Lehmann, der bis Ende November das Expertengremium beim Uno-Komitee für Welternährungssicherheit bei der FAO leitete. Wie hängen Nahrungsmittelproduktion und Klimawandel zusammen, wie steht es um technischen Fortschritt und soziale Verhältnisse? Bernard Lehmann, Bauernsohn aus dem Waadtland, kann auch auf seine früheren Erfahrungen als Agrarprofessor an der ETH und als Chef des Bundesamts für Landwirtschaft zurückgreifen.

Weltwoche: Herr Lehmann, wie beurteilen Sie die gegenwärtige Ernährungssituation in der Welt? Wird der Hunger ausgemerzt, wie das die Uno in Aussicht gestellt hat?

Bernard Lehmann: Es geht zurzeit nicht in diese Richtung. 2016/17 gab es eine Trendumkehr. Die Zahl der Menschen, die an Hunger oder Mangelernährung leiden, hat seither weltweit von etwa 600 Millionen auf ungefähr 800 Millionen zugenommen. Das hat die Fachleute und Beobachter erschreckt, denn vorher hatte die Tendenz zehn Jahre lang nach unten gezeigt. Die Erwartungen waren so hoch, dass man in den Uno-Nachhaltigkeitszielen, den sustainable development goals oder SDG, gar versprach: «Null Hunger 2030.»

Weltwoche: Was passiert nun?

Lehmann: Angesichts des Rückschlags wurde vor zwei Jahren ein Uno-Ernährungsgipfel veranstaltet, um die Gründe zu untersuchen. Und vor ein paar Monaten gab es die Nachlese dazu, mit einem Überblick über Entwicklungen und die Massnahmen, die in den einzelnen Staaten ergriffen worden sind.

Weltwoche: Und der Befund?

Lehmann: Heute ist die Ernährungslage auf der Welt nicht gut, das Ziel von null Hunger in einigen Jahren wird man nicht erreichen.

Weltwoche: Warum operiert die Uno immer mit solch absoluten Null-Zielen, auch beim Klima?

Lehmann: Exakt mit null Hunger hat man schon nicht gerechnet, aber man wollte grosse Anstrengungen mobilisieren gegen eines der grössten Übel der Menschheit. Im Blick sind vor allem auch die Kinder, denn wenn die Jugend ungesund isst, zieht sich das über fünfzig Jahre hin. Deshalb sollte es rasch vorwärtsgehen. Hinzukommt, dass die Uno halt oft mit dem Anspruch auftritt: «Nobody is left behind», niemand wird zurückgelassen.

Weltwoche: Gibt es gegen Hunger bei Kindern spezielle Massnahmen? Der dänische Wissenschaftler Björn Lomborg ist mit seinem Think-Tank Copenhagen Consensus zum Schluss gekommen, dass ein Dollar am meisten brächte, wenn man ihn in bessere Kinderernährung investieren würde.

Lehmann: Es gibt sehr viele gute Massnahmen, die allerdings in der Statistik überdeckt werden von den betrüblichen Zahlen. Es geht oft vergessen, dass viele Anstrengungen zur Armutsbekämpfung erfolgreich sind. Ein Mittagessen in der Schule ist in armen Ländern oft besser als das Essen zu Hause.

Weltwoche: Wo ist die Ernährung am mangelhaftesten?

Lehmann: Zunächst in vielen Regionen, wo Konflikte herrschen und die Versorgung gestört ist. Bemerkenswert ist, dass es am meisten schlecht ernährte und hungernde Menschen in Asien gibt, nicht in Afrika. Das Welternährungsprogramm der Uno betreut gegenwärtig 230 Millionen Menschen, die es täglich ernährt. Am meisten Empfänger finden sich in Asien.

Weltwoche: Womit hängt das zusammen?

Lehmann: Zum einen ist das Bevölkerungswachstum stark. Gut 1 Prozent Zunahme pro Jahr, das summiert sich in kurzer Zeit auf 6 bis 10 Prozent Wachstum. Vor allem aber gibt es eine grosse Migration in die Städte. Und sobald die Leute dort sind, haben sie keinen Zugang mehr zu Land oder Gärten. Dann sind sie nur noch von ihrem Cash abhängig.

Weltwoche: Ist das denn nicht allen bewusst?

Lehmann: Das Ganze ist sehr verwundbar, denn Leute, die keinerlei Job oder durch Covid ihre Taglöhnerbeschäftigung verloren haben, sind innerhalb kürzester Zeit ohne Geld und können keine Nahrungsmittel kaufen. Das ist im urbanen Umfeld gravierend. Die lokale Landwirtschaft um die Städte herum ist zu wenig potent, um die Leute im Ballungsraum zu versorgen. Und der Detailhandel nimmt natürlich nicht karitative Aufgaben wahr.

Weltwoche: Sind das neue Entwicklungen?

Lehmann: Ja, in den Grossstädten gibt es eine neue Art von Hunger, eine einkommensbedingte Hungerart. Es sind nicht immer die gleichen Menschen, die hungern.

Weltwoche: Wie sehen Sie die Chancen, dass der Hunger so verringert oder beseitigt werden kann?

Lehmann: Man kann den Hunger zwar bekämpfen mit solch kurzfristigen Massnahmen, aber es ist keine Lösung, um davon wegzukommen. Man macht die Leute sogar noch ein wenig abhängig davon. Es gibt nun viele Fallstudien über urbane und periurbane Ernährungssysteme, also in Städten und Umgebung. Dazu gehört auch die Frage nach der Governance von Riesenstädten.

Weltwoche: Also das Führen von Agglomerationen verbessern?

Lehmann: Das ist ein Thema, Megacitys sollten so gestaltet werden, dass nicht nur Wohnen, Infrastruktur und Transportwege geplant werden, sondern auch Ernährungssicherheit. Es gibt für viele arme Menschen zu wenig Möglichkeiten, zu günstigen Nahrungsmittel zu kommen.

Weltwoche: Was sollen die Stadtverantwortlichen tun?

Lehmann: Man könnte mehr herausholen aus den Bodenflächen in Stadtnähe. Ich kenne die Stadt Abidjan, die Wirtschaftskapitale der Elfenbeinküste, gut. In deren Bauten gibt es sehr viel Potenzial für Gärten. Auch in Sri Lanka habe ich gesehen, dass die Haushalte, die einen Heimgarten haben, sich viel sicherer ernähren können, ausgewogener essen, Gemüse anbauen. Mais gedeiht in den Gärten bestens und ist eine wertvolle Nahrungspflanze.

Weltwoche: Jetzt aus der ganz weiten Perspektive: Die Landwirtschaft hat die Menschheit bisher doch immer einigermassen ernähren können, hat das Bevölkerungswachstum von zwei auf acht Milliarden Menschen bewältigt. Gibt die Trendwende beim Hunger nun Anlass zu Sorgen? Kommt man jetzt an eine Limite?

Lehmann: Wenn man die Zahlen anschaut, ist es eindrücklich: Die Bevölkerung hat sich seit Anfang der 1960er Jahre verdreifacht. Und die Landfläche, die der Landwirtschaft zur Verfügung steht, hat in dieser Zeit tendenziell abgenommen, vor allem wegen der Urbanisierung. Es wurden zwar Waldflächen abgeholzt und urbar gemacht, aber nicht so viel, wie die Zersiedelung beansprucht hat. So gesehen, hat die landwirtschaftliche Produktivität pro Hektar in den vergangenen siebzig Jahren auf das 3,5-Fache zugenommen.

Weltwoche: Das ist doch gewaltig.

Lehmann: Die Leistung der Landwirtschaft ist fantastisch. Da ist Enormes geleistet worden.

Weltwoche: War das vor allem der technische Fortschritt?

Lehmann: Die sogenannte grüne Revolution hat eine wichtige Rolle gespielt. Wir haben gerade kürzlich in Forschungskreisen in der Schweiz die Frage diskutiert, was dieser technische Fortschritt gebracht hat, was man allenfalls korrigieren sollte. Meiner Ansicht nach muss ausdrücklich betont werden: Die grüne Revolution hat diese enormen Ertragssteigerungen gebracht. Mit Düngung, weitgehend ausgewogener Düngung, mit Sortenzüchtungen, auch mit Pflanzenschutz durch synthetische Substanzen.

Weltwoche: Die grüne Revolution erhielt viel Kritik.

Lehmann: Ja, da ist einiges in Frage zu stellen, wegen negativer Wirkungen auf Böden, die Umwelt ganz allgemein, Sozialstrukturen und Weiteres. Sicher gibt es zum einen die Frage der Umweltbelastung, die anzugehen ist. Der Weg heisst hier Agrarökologie. Zum anderen wissen wir aber, dass die Bevölkerung weiter zunimmt, sie wird nochmals um eine Milliarde wachsen. Vor allem in Afrika, das vom Klimawandel stärker betroffen ist als andere Regionen.

Weltwoche: Der britische Ökonom Thomas Malthus entwickelte von über 200 Jahren die Theorie, dass die Bevölkerung der Erde langfristig rascher wachse als die Landwirtschaft und dass irgendwann ein fataler Nahrungsmittelmangel entstehe, eine Existenzgrenze. Gibt es Anzeichen dafür?

Lehmann: Summarisch kann man sagen: Malthus hat im globalen Durchschnitt nicht recht. Gleichwohl ist es so, dass es immer eine bestimmte Anzahl von Menschen gibt, die Versorgungsprobleme haben. Aber der Anteil hat bis jetzt nicht zugenommen. Wenn wir auf die 1960er Jahre zurückblicken, so hat es bei einer erheblich kleineren Bevölkerungszahl viel Hunger gegeben, bisweilen litt ein Drittel der Menschheit Hunger. So gesehen, sind die Fortschritte bis heute riesig. Auf die Frage, ob man an einen Kipppunkt gelangen könnte, der zu einer Malthus-Katastrophe führt, würde ich sagen: Nein.

Weltwoche: Geht die grüne Revolution also weiter?

Lehmann: Es braucht sicher Korrekturen, etwa Verbesserungen in der Nutzung der chemischen Substanzen, besseren Umweltschutz. Aber die Produktivität der Landwirtschaft soll darunter nicht leiden. Wir haben aus dem Bio-Landbau die Erfahrung, dass Anbauformen, die weniger Hilfsmittel und Dünger brauchen, eine grössere Widerstandskraft haben, wenn es trocken wird. Der Grund: Da wurde mehr auf Humusaufbau geachtet, auf Bodenfruchtbarkeit. Diese Böden sind weniger auf eine Versorgung angewiesen, die unmittelbar wirkt und dann wieder nachlässt.

Weltwoche: Aber die Erfahrungen zeigen doch auch, dass im Bio-Landbau die Erträge niedriger sind als bei konventionellen Formen. Die Stickstoffsynthese hat seinerzeit den Kunstdünger gebracht, ohne den die Hälfte der Menschheit verhungern würde.

Lehmann: Die Erträge der konventionellen Systeme und die der biologischen werden sich angleichen. Der konventionelle Anbau ist an verschiedenen Fronten unter Druck gekommen und hat sich Ertragskraftprobleme eingefangen mit der Anwendung bestimmter Hilfsstoffe oder Dünger. Aber letztlich ist der technische Fortschritt nach wie vor am Wirken. Jüngste Beispiele sind die gentechnischen Verfahren mit dem Genom-Editing Crispr/Cas, die weitere erhebliche Züchtungsfortschritte wahrscheinlich machen.

Weltwoche: Sehen Sie die Gen-Editierung als Lichtblick?

Lehmann: Ja. Auch, weil es technischen Fortschritt auch für die Ärmsten zugänglich macht. Oft ist es bei neuen technischen Verfahren ja so, dass zu deren Nutzung eine bestimmte Grösse in der Anwendung erforderlich ist. Sei das von der Investitionssumme, von der Fläche oder von der Anlagen- und Maschinengrösse her. Gen-Editierung geht nicht in diese Richtung, das kann man in einem kleinen Labor machen.

Weltwoche: Das kann also auch eine lokale Firma oder Genossenschaft durchführen, um neue Pflanzen zu züchten?

Lehmann: Dazu braucht es keine grossen Strukturen. Mittelfristig sehe ich im Genom-Editing eine Lösung im Kampf gegen Krankheiten, Pflanzen werden widerstandsfähiger gegen Schädlinge, Wassermangel und ertragen ungünstige Einflüsse besser. Da sehe ich es ähnlich wie Urs Niggli, der frühere Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau in Frick. Der Grossteil der Welt wird diesen Weg gehen. Aber ich spreche jetzt nicht von der Schweiz, die in der grünen Gentechnologie zurzeit politisch ihren eigenen Weg sucht.

Weltwoche: Sie sind Bauernsohn, waren ETH-Agrarprofessor, dann Chef des Bundesamts für Landwirtschaft und sind heute Stiftungsratspräsident des Forschungsinstituts für biologischen Landbau. Was kann man für die globale Landwirtschaft Ihrer Ansicht nach von der Schweiz lernen?

Lehmann: So trocken es auch tönt: einen gesunden Strukturwandel zu lebensfähigen Familienbetrieben; keine Verindustrialisierung der Landwirtschaft; eine hohe Resilienz mit Berücksichtigung von Selbstversorgungsgrad und Lagerhaltung; ökologische Ausrichtung.

Weltwoche: Und löst die Schweiz das ein?

Lehmann: Das Land ist in mancher Hinsicht ein Vorbild. Etwa in der Frage: Wie hat das eigentlich die Schweiz bewerkstelligt mit ihren kleinen Strukturen? Man hat den technischen Fortschritt so angewendet, dass er auf Familienbetriebe ausgerichtet war. Wir haben eine weniger intensive Landwirtschaft als etwa die Niederlande, wo die Stickstoffbelastung jetzt ein grösseres Thema ist. Die Schweizer Landwirtschaft ist beim Leitbild der Familienbetriebe geblieben, klar, auch mit Kooperationsformen, aber man wollte keine Industrialisierung der Landwirtschaft und liess sie auch nicht zu.

Weltwoche: Sehen Sie das positiv?

Lehmann: Auf jeden Fall. Im Gegensatz dazu sieht man in Entwicklungsländern oft eine Dualität mit einer Hochleistungslandwirtschaft industrieller Natur auf der einen Seite und Kleinstbetrieben mit Ministrukturen auf der anderen Seite. Die Herausforderung ist jetzt, dass der technische Fortschritt global gesehen auch den Kleinstbetrieben nützen kann. Ein gewisser Strukturwandel ist notwendig, etwa die Schaffung genossenschaftlicher Strukturen. Zentral ist aber, dass der Privatsektor dafür sorgt, dass die Kleinen Lösungen erhalten. Stichwort «Smart Solutions». Die Digitalisierung fördert die Tendenz, dass es nicht immer die grossen Strukturen braucht.

Weltwoche: Aber die Vollprofis der industriellen Landwirtschaft müssen doch auch aufdrehen?

Lehmann: Da stellen sich brisante Fragen. Soeben hörte ich von einem Vertreter eines der grössten Hilfsstoff-Konzerne der Welt, dass im Bereich Pflanzenschutzmittel nur noch die Allergrössten ein Zulassungsverfahren finanzieren könnten, also Moleküle entwickeln, die Testhürden nehmen, Durststrecken durchhalten. Das merzt die Kleinen aus. Das sei das Ende einer Industrie, meinte der Konzernvertreter.

Weltwoche: Wo begünstigt der Klimawandel die Landwirtschaft, wo bedroht er sie?

Lehmann: Es gibt dazu eine Karte, die zeigt in Grün die Zonen, die eher profitieren und in Gelb und in Rot die Verliererregionen. Grün erscheinen Russland, Skandinavien, Kanada. Südlich davon dominieren die Töne Hellrot bis Dunkelrot. Mit den Pflanzensorten, die heute da angebaut werden, sind sie Verlierer. Die Merlot-Traube im Bordeaux wird unbrauchbar, wenn es 2 bis 3 Grad wärmer wird. Da müssen sich die Bauern anpassen. Klar, man kann Sorten in andere Gebiete verlagern, es muss nicht alles neu erfunden werden.

Weltwoche: Und das Berggebiet?

Lehmann: Für etwas höher gelegene Standorte im alpinen Raum wird die Vegetationszeit eventuell länger, der Ertrag dadurch höher, wenn die Trockenheit nicht überhandnimmt.

Weltwoche: Man hört oft, dass die Hälfte der Nahrungsmittel verlorengeht. Wenn das so ist, warum geht man heute nicht energischer dagegen vor?

Lehmann: Es stimmt, wir brauchen für die Produktion insgesamt zu viel Ressourcen. Insgesamt wird auf dem weltweiten Ackerland viel mehr produziert, als gegessen wird. Verluste, Verschwendung, Zweckentfremdung für Biotreibstoffe spielen eine Rolle, und im globalen Norden basiert die Milch- und Fleischproduktion zu stark auf Futter des Ackerlandes.

Weltwoche: Und die Gegenmittel?

Lehmann: Es wird viel gemacht, mit Aufklärung. Vorschriften sind sehr schwierig durchzusetzen; es gibt aber auch immer mehr Tools, die Verschwendung verringern helfen. Bei den Verlusten im globalen Süden werden innovative Kreisläufe aufgebaut, etwa über Maden, die Verdorbenes fressen und dann zu Tierfutter werden und so quasi als zweitbeste Lösung im Kreislauf bleiben.

Weltwoche: Sie haben als Vorsitzender des Uno-Expertengremiums zu Ernährungssicherheit kürzlich einen Bericht vorgestellt, der Vorschläge zur Änderung des weltweiten Ernährungssystems macht. Was sind die wichtigsten Punkte?

Lehmann: Im globalen Süden speziell muss man die Fähigkeit der Menschen verbessern, auf eigenen Füssen zu stehen, dies vor allem mit Ausbildung, Zugang zu Ressourcen und zu Kapital. Ziel ist die Stärkung der lokalen Produktion gegenüber Importen, die Stärkung der lokalen Märkte. Wir sprechen von sechs Dimensionen der Ernährungssicherheit: Verfügbarkeit, Zugang, Verwendung, Resilienz, Nachhaltigkeit, menschliche Fähigkeiten, Eigenständigkeit.

Weltwoche: Sind Marktkräfte in der Landwirtschaft zu wenig wirksam gegen das Hungerproblem?

Lehmann: In meiner langen Berufserfahrung habe ich mehrere Phasen erlebt. Ursprünglich dachte ich, der Markt könne fast alles regeln, der internationale Wettbewerb gehört grundsätzlich aber auch dazu. Dies wurde in den Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO in den 1980er und 1990er Jahren, die den ganzen Agrarsektor liberalisieren wollte, analog zur Industrie, sichtbar. Das war schwierig und zeigte, dass Nahrungsmittel auch ein Stück weit öffentliche Güter sind. Es gibt ja auch seit langem einen Uno-Beauftragten für ein Recht auf Nahrung. Das sind Signale dafür, dass Essen etwas Spezielles mit meritorischem Charakter ist, und auch eng mit Verteilungsfragen sowie Umweltfragen zusammenhängt.

Weltwoche: Das verpflichtet zum öffentlichen Handeln?

Lehmann: Die Sorge um verwundbare Gruppen führt zur verbilligten Abgabe von Nahrungsmitteln. Auch in der Schweiz wird das ja praktiziert, etwa durch die Caritas. So gesehen, funktioniert der Markt für Nahrungsmittel nie so, dass alle genug zu essen haben.

Weltwoche: Wäre die Entwicklung in industrieller Richtung nicht auch sinnvoll? Weg von der Fleischproduktion durch Tiernutzung, hin zu künstlichem Fleisch. Oder Pflanzenproduktion ohne Erdboden, hor-sol, auf Nährlösung? Sind das vielversprechende Wege?

Lehmann: Hors-sol könnte in überbauten Gebieten, die völlig versiegelt sind, eine gute Lösung sein, um in urbanen Zonen Pflanzen zu haben. Und Fleisch aus dem Bioreaktor wird vielerorts bereits erprobt oder in Erwägung gezogen, etwa auch von Fenaco, dem grössten Schweizer Agro-Unternehmen. Die Bauern möchten diese Technologie selber in die Hand nehmen, um auf den Markt treten zu können. Es kann sein, dass dies auch kleingewerblich machbar ist.

Weltwoche: Geht die Landwirtschaft stark in Richtung künstliche Grundlagen, oder findet das keinen breiten Anklang?

Lehmann: Diese Anwendungen werden noch lange teuer bleiben, von daher bleiben es Nischen. Aber Dynamik ist erkennbar. Die politische, gesellschaftliche Welt scheint gegenwärtig mehr von Neugier als von Angst getrieben zu sein.

«Man könnte mehr herausholen»: Agrarökonom Lehmann.