Wenn du etwas gesagt haben willst, frage einen Mann; wenn du etwas erledigt haben willst, frage eine Frau.
Margaret Thatcher

Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren startete die #MeToo-Bewegung. Auslöser war eine Twitter-Notiz der Schauspielerin Alyssa Milano. Sie schrieb auf den Fall des amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, dem schwerwiegende Fälle sexueller Belästigung vorgeworfen werden, jede Frau, die Opfer sexueller Übergriffe gewesen sei, solle sich unter dem Hashtag #MeToo melden. Millionen sollten dem Aufruf folgen. #MeToo wurde zu einem politischen Weltbeben, dessen Ausläufer und Erschütterungen bis in die Schweiz zu spüren waren und immer noch sind.

Es gibt viel berechtigte Kritik an #MeToo. Manche sehen darin eine Facette des grassierenden Moralismus. Rechtsstaatliche Standards würden aus den Angeln gehoben, Männer pauschal verdächtigt und in den Ruch von Straftaten gerückt, schutzlos ausgeliefert den Rasereien von Frauen, die mit geringer Beweispflicht fürchterliche Anschuldigungen erheben dürften. #MeToo habe die Geschlechterbeziehungen vergiftet, einem ideologischen Feminismus Vorschub geleistet und sei als Allzweckwaffe vor allem linker Kreise zu einem beliebten Instrument politischer Abrechnungen und Vergeltungen geworden.

Sicher ist an all diesen Vorwürfen etwas dran, und wie die meisten kraftvollen politischen Bewegungen, die ihren Ursprung einer Empörung verdanken, krankt #MeToo an Missbrauch und Übertreibung. Allerdings macht man es sich zu einfach und verkennt den tieferen Punkt der Wahrheit dieser Bewegung, wenn man #MeToo als ideologischen Irrtum abtut. Ich möchte #MeToo im Folgenden zu würdigen versuchen als eine Art sexuelle Reformation der Frauen, als einen letztlich zwingenden und vernünftigen Schritt im Prozess der Zivilisation unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zwischen Mann und Frau.

#MeToo hat weltgeschichtlichen Rang als Fortschritt der Menschheit im Prozess der Zivilisation.

Die theologische Reformation des 16. Jahrhunderts war ein Aufstand von Gläubigen gegen den Machtmissbrauch der katholischen Kirche, gegen ihren Monopolanspruch auf die Seele der Menschen und deren Heil, als Skandal sicht- und fühlbar geworden im kirchlichen Handel mit Ablassbriefen, die dem Käufer einen sicheren Transfer in den Himmel versprachen. #MeToo ist ein Aufstand der Frauen gegen den Vatikan der Männer, gegen Machtmissbrauch und die Selbstverständlichkeit, mit der sich Männer in Machtpositionen sexuelle Gefälligkeiten erzwangen, Frauen schlecht behandelten.

Meine Sicht auf das Thema ist durch persönliche Erlebnisse geprägt. Diese haben keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit, keinen objektiven Rang, aber es sind Schlaglichter, die mir zu denken gegeben haben und die ich für symptomatisch halte. Für mich steht ausser Frage, dass Frauen, auch in der Schweiz, durch Männer systematisch benachteiligt worden sind, ganz massiv sogar, und dass #MeToo vor diesem Hintergrund ein überfälliger Protestschrei ist, ein Vulkanausbruch kollektiv über Generationen aufgestauten Unbehagens mit dem Ziel, das Unrecht zur Sprache zu bringen, um es zu beenden.

Eine Schockerfahrung für mich waren die Scheidungsunterlagen meiner Eltern. Durch Zufall entdeckte ich im Keller die Bundesordner mit den Akten aus den siebziger Jahren. Ich traute beim Lesen meinen Augen nicht, mit welch hanebüchenen Geschichten und Vorwürfen mein Vater meine Mutter vor Gericht um finanzielle und andere Vorteile bringen konnte. Es fällt einem Sohn nicht leicht, solche Abgründe seines Erzeugers zu besichtigen, doch die Lektüre machte mir deutlich, dass es damals wirklich übel um die Frauen gestanden haben muss, als Scheidungen noch nach solchen Drehbüchern ablaufen konnten.

Der zweite Vorfall betraf einen früheren Arbeitgeber. Ich will daraus keine generelle betriebliche Diagnose ableiten, aber es war schon augenfällig, wie ein bekannter Vorgesetzter, verheiratet, während des Abendessens nach einer unternehmerischen Fortbildung eine seiner Mitarbeiterinnen abknutschte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sich dagegen gewehrt oder es besonders angenehm gefunden hätte, aber der Chef ging mit einer derartigen Selbstverständlichkeit ans Werk, dass ich noch heute erstaunt bin angesichts dieser schieren Offenkundigkeit. Natürlich traute auch ich mich nicht, die Sache mit den Betroffenen anzusprechen.

Wohlverstanden: Ich bin kein Vertreter der feministischen Opfertheorie. Ich misstraue allen Schweizer Statistiken, die angeblich belegen sollen, Frauen würden beim Lohn nicht aufgrund von Leistung, sondern weil sie Frauen sind, weniger gut wegkommen. Ich bin dezidiert der Auffassung, dass die Marktwirtschaft Leistung unabhängig von Zufälligkeiten wie Haarfarbe oder Geschlecht bewertet, ganz einfach deshalb, weil kein Unternehmer eine Mitarbeiterin unter deren Leistung bezahlen wollen kann. Tut er es dennoch, geht die Mitarbeiterin zur Konkurrenz, wodurch sich der geizige Unternehmer selber schadet.

Ungeachtet all dessen bin ich überzeugt, dass die #MeToo-Bewegung niemals entstanden wäre ohne ein weitverbreitetes Fehlverhalten der Männer, nicht erst seit gestern. Ja, es ist zum Teil ungerecht, wie das Pendel heute zurückschlägt, aber mein Mitleid für die Männer hält sich in Grenzen, weil ich ahne, dass ihnen nur zurückgezahlt wird, was sie selber und frühere Männergenerationen den Frauen angetan haben. Nein, ich sage nicht, dass die Weltgeschichte von Mann und Frau ein einziges Drama namenloser Grausamkeiten gewesen ist, aber es gibt verdrängte, von den Männern kaum zur Kenntnis genommene Ungerechtigkeiten.

Die protestantische Reformation bewirkte eine katholische Gegenreformation. Der Vatikan ging einsichtiger und vernünftiger daraus hervor. Ich bin überzeugt, dass #MeToo am Ende auch die Geschlechterbeziehungen besser, die Männer sensibler machen wird. Gewiss müssen die Frauen aufpassen, dass sie die sexuelle Reformation nicht missbrauchen und damit ihr moralisches Kapital verspielen. Indem die Frauen die Männer kritisieren, zivilisieren sie die Männer. Für mich hat #MeToo weltgeschichtlichen Rang als Fortschritt im Prozess der Zivilisation, der uns zu besseren, weil aufmerksameren und bewussteren Menschen macht. R. K.