Giessbach

Eine prächtigere Zentrale, um einen Abstimmungskampf zu bestreiten, hatte ein Referendumskomitee noch nie. Seit Mai 2023 amtet Vera Weber nicht nur als Präsidentin der Fondation Franz Weber, sondern führt auch als Direktorin ad interim das «Grandhotel Giessbach» und hat eine Bleibe im Personalhaus neben dem Gebäude aus der Belle Epoque.

 

«Ein klarer Verfassungsbruch!»

Es war ihr Vater Franz Weber, der 1983 mit der Stiftung «Giessbach dem Schweizervolk» das historische Ensemble hoch über dem Brienzersee vor dem Untergang rettete und zu neuem Leben erweckte. Weil sie bisher keinen geeigneten Hotelleiter gefunden hat, macht Vera Weber den Job selbst, wie sie der Weltwoche auf einem Rundgang durch die 22 Hektaren grosse Anlage erzählt, die langsam aus dem Winterschlaf erwacht.

Im Salon Giron mit fantastischem Ausblick auf See und Berge führt die 49-Jährige aus, weshalb die Stimmbürger am 9. Juni das Stromgesetz («Mantelerlass») ablehnen sollen. Namensgeber des Raums ist der Maler Charles Giron (1850–1914), dessen Gemälde «Schwingfest in den Alpen» die Wand schmückt. Bekannt ist der Genfer Künstler für sein Monumentalwerk «Wiege der Eidgenossenschaft» im Nationalratssaal.

Weber steht vor einer schwierigen Kampagne. Ein breites Bündnis, angeführt von SVP-Umweltminister Albert Rösti, sekundiert von Energiepolitikern seiner Partei, von FDP, Mitte, EVP, GLP, SP und Grünen, aber auch Wirtschaftsverbänden wie Economiesuisse, Bau-, Strom-, Autobranche und Gewerkschaften, setzt sich für das Anliegen ein. Selten habe eine politische Vorlage einen so breiten Konsens gefunden, betonen die Befürworter deshalb bei jeder Gelegenheit gerne.

Trotz dieser Übermacht hat Weber den Fehdehandschuh aufgenommen und vertritt mit ruhiger Stimme, aber unmissverständlichen Worten, weshalb sich die Schweizer Politik-Elite mit diesem Gesetz auf dem Holzweg befindet: «In einer unheiligen politischen Allianz ist ein bürokratisches Monster entstanden, das die Natur und die Landschaft zerstört, die demokratischen Mitspracherechte einschränkt und gegen die Verfassung verstösst.»

Sind eine überdeutliche Mehrheit des Parlaments und der Bundesrat bereit, auf dem Altar des Klimaschutzes und der Stromproduktion das oberste Regelwerk des Landes zu verletzen? Ein happiger Vorwurf. Die Umweltschützerin, die seit 2014 an der Spitze des Lebenswerks ihres legendären, 2019 verstorbenen Vaters steht, insistiert: «Ja, es ist ein klarer Verfassungsbruch! Neue Energieanlagen werden bei einem Ja zum Dekret grundsätzlich Vorrang erhalten. Das heute gültige Gleichgewicht zwischen Schutz und Nutzung wird fallengelassen.» Dabei gäbe die Verfassung klar den Auftrag, die verschiedenen Interessen gleichrangig zu behandeln. «Die über Jahrzehnte durch den Willen der Mehrheit des Volkes und der Kantone in der Bundesverfassung beschlossenen Verfassungsbestimmungen für den Erhalt der natürlichen Umwelt werden desavouiert.»

 

Gegen Solargrossanlagen in den Alpen

Die parteilose Stiftungspräsidentin hat sich tief in die Vorlage eingearbeitet. Sie nennt ein konkretes Beispiel, wie der Naturschutz ausgehebelt wird. Im Stromgesetz werde etwa festgehalten, dass in Biotopen von nationaler Bedeutung und in Wasser- und Zugvogelreservaten neue Anlagen zur Nutzung erneuerbaren Energien ausgeschlossen seien. Nach diesen Ausführungen werde aber gleich eine Reihe von Ausnahmen präsentiert, wie die Reduktion von Wassermengen in Bächen und Flüssen innerhalb von Schutzgebieten, um oberhalb des Naturortes Wasser für die Stromproduktion entnehmen zu können.

Was wäre die Alternative? Vera Weber ist der Auffassung, der Mantelerlass müsse zurück ins Parlament geschickt und korrigiert werden. Gleichzeitig schlägt sie einen massiven Ausbau der Solarenergie vor. Das Stromgesetz verlangt, dass auf grossen Dächern und Fassaden, die neu gebaut und über 300 Quadratmeter gross sind, künftig Fotovoltaikanlagen montiert werden müssen. Dieser Vorschlag reiche nicht. «Solaranlagen sollen auf allen geeigneten Hausdächern, an Fassaden und Infrastrukturen installiert werden, wo keine Beeinträchtigung des Kulturgutes und der Natur erfolgt.»

«Diese Projekte kommen nur zustande, weil der Bund bis zu 60 Prozent der Installationskosten übernimmt.»

Tatsächlich hat das Bundesamt für Energie in einer Studie schon 2019 berechnet, dass auf Schweizer Gebäuden jährlich 67 Terawatt Sonnenenergie erzeugt werden können, mehr als der gesamte Bedarf des Landes. Stellt sich die Frage, ob Weber auch bereit wäre, auf ihrem Hotel diese Panels zu installieren. Sie schmunzelt und sagt, nein, dieses Gebäude stehe unter nationalem Denkmalschutz und wäre davon ausgenommen.

Entschieden stemmt sich Weber gegen Solargrossanlagen in den Alpen. «Diese Projekte kommen nur zustande, weil der Bund mit einer hohen Einmalvergütung bis zu 60 Prozent der Installationskosten übernimmt.» Weber spürt Rückenwind aus der Bevölkerung. In den letzten Monaten versenkten die Stimmbürger in den Gemeinden Surses GR, Hasliberg BE, Gstaad BE, Ilanz/Glion GR, Disentis GR, Rickenbach LU und Oberiberg SZ grosse Pläne für alpine Solaranlagen.

Wenig oder gar nichts hält die Referendumsführerin vom geplanten massiven Ausbau von Windturbinen. «Die Schweiz ist kein Windland», hält sie lapidar mit Blick auf den ruhigen Brienzersee fest. «Es ist widersinnig, das Klima retten zu wollen, indem wir unsere Wälder und Bäume zerstören.» Dieser Einwurf lässt sich schwer widerlegen und dürfte noch für grosse Diskussionen sorgen – gerade bei Umweltschützern. Die Eingriffe in die Natur sind massiv. Es braucht Zufahrtsstrassen, viele Tonnen Beton und tiefe Bohrungen ins Erdreich. Bis zu 500 Quadratmeter Landwirtschafts- oder Waldfläche werden voll versiegelt.

Keine Option ist für Weber auch die Rückkehr zur Atomkraft. «Das Volk hat den Ausstieg beschlossen. Ich sehe deshalb keinen Grund, diesen Entscheid zu revidieren.»

Die Herausforderin des Politik-Establishments argumentiert sachlich und präzis. Bei einem Vorwurf verliert sie aber kurz die Contenance. Die Befürworter des Vorstosses unterstellten ihr kürzlich an einem Point de Presse, sie würde «Partikularinteressen vertreten und damit die Versorgungssicherheit der Schweiz gefährden».

Weber: «Das ist völlig absurd. Wir haben das Referendum ergriffen, weil wir nach langen Abklärungen zum Schluss kamen, dass das Stromgesetz der falsche Weg ist. Die Fondation Franz Weber oder ich persönlich verdienen oder profitieren in keiner Weise.»

 

SVP-Dettlings Gratwanderung

Das Gegenteil sei der Fall. Die mit Spenden, Legaten und Mitgliederbeiträgen finanzierte Stiftung mit ihren 36 000 Mitgliedern verwende eigene Mittel, um diesen Abstimmungskampf zu bestreiten. Im Augenblick stünden 400 000 Franken zur Verfügung. Gleich geht sie zum Gegenangriff über. Der Grund, weshalb die Wirtschaftsverbände geschlossen Partei für das Anliegen ergreifen, sei das Geld. Unterstützt der Souverän im Frühsommer das Vorhaben, werden Milliarden von Franken an Fördermitteln ausgeschüttet. «Die Anhänger glauben, dass sie von diesem staatlichen Geldsegen auch profitieren werden. Deshalb sind sie Feuer und Flamme. Wenn jemand Partikularinteressen verfolgt, dann diese Seite, sicher nicht wir.»

Auf die Frage, welche Chancen sie sich ausrechnet, reagiert Weber ausweichend: «Es wird auf jeden Fall verdammt schwierig.» Sie könne keine Prognose machen.

Die Gegner tun sicher gut daran, Weber nicht zu unterschätzen. Schon in der Vergangenheit gelangen ihrer Gruppe spektakuläre Erfolge. Der grösste war sicher vor zwölf Jahren, als die Bevölkerung überraschend der Zweitwohnungsinitiative zustimmte. Wie jetzt mit dem beliebten Umweltminister Rösti duellierte sich Weber 2012 mit einer scheinbar übermächtigen Gegnerin – der Mitte-Bundesrätin Doris Leuthard.

Damals hatte sie die Linke auf ihrer Seite, jetzt kämpft sie mit der SVP. Offen ist, wie sehr sich die Partei ins Zeug legen wird. Für den neuen Präsidenten Marcel Dettling ist es eine Gratwanderung. Wie stark will der Schwyzer Nationalrat auf seinen eigenen Bundesrat losgehen? Rösti hat auf jeden Fall signalisiert, dass er die Opposition aus den eigenen Reihen sportlich nehmen wird. Bei der Beschlussfassung an der Delegiertenversammlung in Langenthal Ende März blieb er bis zum Schluss und erklärte, dass er gut damit leben könne, dass seine Partei eine Sachfrage anders beurteile als er selbst.

Zumindest auf dem Papier sind die beiden ein starkes Duo. Hier die höfliche, unaufgeregte und detailversessene Weber, dort die Rechtspartei, die komplexe Zusammenhänge für jeden verständlich zusammenfassen kann.

Und mit dem Hotel «Giessbach» stünde auch ein Ort für eine würdige Siegesfeier bereit.