Die Uhren ticken anders im Vatikan. Der Welthauptsitz der Katholiken scheint tatsächlich mit der Ewigkeit im Bunde, irgendwie erhaben über der Hektik des Alltags. Wir treffen den Schweizer Kardinal Kurt Koch, einst Bischof von Basel, hochgelehrter Theologe, in seinem Büro unweit der Kaserne unserer Schweizergarde. Die Leibwache des Papstes, seit 1506 mit grosser Treue am Bischofsstuhl von Rom, freut sich auf eine neue Behausung, einen Neubau, dessen Finanzierung der Luzerner Unternehmer Guido Egli auf die Beine gestellt hat. Auf «Weltwoche daily» lief jüngst ein Interview mit dem Gardisten-Kommandanten Christoph Graf, Luzerner auch er.

Koch ist ein nachdenklicher Mensch. Er spricht überlegt, in druckreifen Sätzen. Mühelos wechselt er von kirchenpolitischen Fragen und Gegenwartsdiagnosen ins Theologische. Es entspinnt sich eine Diskussion über die Krise des Christentums in Europa und die Botschaft des Evangeliums. Koch strahlt ein angenehmes Charisma aus, er ist kein Fernsehprediger, kein Lautsprecher, kein Feuerkopf des Glaubens. Seine Überzeugungskraft liegt in der Argumentation, in einer geradezu tänzerischen Leichtfüssigkeit, wie er historische und philosophische Bezüge herstellt, ohne mit seiner Gelehrsamkeit aufzutrumpfen; ein Denker von eindrucksvoller Bescheidenheit.

Geboren wurde Kurt Koch am 15. März 1950 in Emmenbrücke, Kanton Luzern. Sein erster Berufswunsch, mit drei Jahren, war «Samichlaus», ab der ersten Klasse wollte er Priester werden. Sein Theologiestudium absolvierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Universität Luzern. Papst Johannes Paul II. ernannte Koch zum Bischof, ausgerechnet am 6. Dezember (1995). Von 2007 bis 2009 war er Präsident der Schweizer Bischofskonferenz. Papst Benedikt XVI. – wohl auch ein theologisches Vorbild des Schweizer Kardinals – berief Kurt Koch zum Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, diese Funktion bekleidet er bis heute. Am 3. Mai 2021 wurde Kurt Koch von Papst Franziskus zum Kardinalpriester ernannt.

Weltwoche: Herr Kardinal Koch, Sie leben die ganze Zeit über in Rom?

Kardinal Koch: Ja.

Weltwoche: Wie muss man sich den Alltag eines Kardinals im Vatikan vorstellen?

Kardinal Koch: Sehr unterschiedlich. Oft bin ich auf Reisen. Vieles lässt sich nicht am Schreibtisch erledigen. Ich muss zu den Kirchen gehen. Bin ich alleine im Büro, fange ich um halb neun an und arbeite bis um zwei. Dann vom Nachmittag bis am Abend.

Weltwoche: Ihr Schwerpunkt ist?

Kardinal Koch: Der Schwerpunkt sind die ökumenischen Dialoge mit allen christlichen Gemeinschaften – sowie dem Judentum. Zum Judentum haben wir eine Beziehung, wie wir sie zu keiner anderen Religion haben. Ich bin allerdings nur zuständig für die religiösen Verbindungen, die politischen liegen beim Staatssekretariat. Wobei es im Judentum nicht so einfach ist, zu trennen zwischen Politik und Religion. Weiter bin ich Mitglied anderer Dikasterien, das gibt sehr viel Arbeit.

Weltwoche: Was ist das grösste Thema unter den christlichen Gemeinschaften?

Kardinal Koch: Wir sind uns in verschiedenen Glaubensfragen nähergekommen, doch gibt es noch keine gemeinsame Vorstellung des Ziels der Ökumene [. . .] Die katholische Kirche hat die Überzeugung, dass man die Einheit sucht im Glauben, in den Sakramenten und in den Ämtern. Sobald man all dies gegenseitig anerkennt, hat man eine Kirchengemeinschaft. Viele aus der Reformation hervorgegangene Kirchen haben aber eine ganz andere Vorstellung: Alle sollen sich gegenseitig als Kirche anerkennen, und die Summe aller kirchlichen Gemeinschaften [. . .] soll dann die eine Kirche ergeben.

Weltwoche: Und wo liegt nun das Problem?

Kardinal Koch: Es ist ein grosses Problem: Wenn Sie am Flughafen Kloten in ein Flugzeug einsteigen, ohne zu wissen, wohin Sie reisen wollen, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie in Barcelona landen und nicht in Rom, was durchaus bedauerlich wäre. Darum glaube ich: Wir müssen uns neu darauf besinnen: Was ist das gemeinsame Ziel, was wollen wir erreichen?

«Es ist ja interessant: Jesus befiehlt die Einheit seinen Jüngern nicht. Er betet für sie.»Weltwoche: In ethischen Fragen gibt es ebenfalls grosse Unterschiede zwischen den kirchlichen Gemeinschaften.

Kardinal Koch: Das ist die zweite grosse, neue Herausforderung. In den achtziger und neunziger Jahren lautete ein wichtiger Satz in der Ökumene: Der Glaube trennt, das Handeln eint. Die Einheit würde sich aus dem Handeln ergeben. Heute ist es fast umgekehrt. In Glaubensfragen kamen wir uns näher, aber die Differenzen ergeben sich auf ethischem Gebiet, vor allem in zwei Bereichen: Ehe, Familie, Sexualität und Gender. Dann die bioethischen Fragen, Anfang und Ende des Lebens. Die dritte Herausforderung ist das rasante Wachstum der evangelikalen und pentekostalen Bewegungen. Das ist heute die zweitgrösste Realität nach der katholischen Kirche. Das sind ganz neue Herausforderungen.

Weltwoche: Warum ist es so wichtig, die unterschiedlichen christlichen Strömungen zusammenzubringern?

Kardinal Koch: Erstmals wurde diese Notwendigkeit erkannt 1910 an der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburg. Die dort Versammelten kamen zur Überzeugung, dass das grösste Hindernis einer glaubwürdigen Weltmission die zertrennte Christenheit sei. Mit der Mission sind auf andere Kontinente nicht nur das Evangelium gebracht worden, sondern auch die europäischen Kirchenspaltungen. Diese Uneinheit und Zerstrittenheit der Christen schadet der Glaubwürdigkeit des Evangeliums. Zweitens ist es natürlich der Wille Jesu. Das Fundament ist das hohepriesterliche Gebet im 17. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Dort betet Jesus zu seinem himmlischen Vater: Alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt, dass Du mich gesandt hast. Es ist ja interessant: Jesus befiehlt die Einheit seinen Jüngern nicht. Er betet für sie.

Weltwoche: Weil sie möglicherweise schon damals nicht selbstverständlich war.

Kardinal Koch: Ja. Es waren halt Menschen.

Weltwoche: Was ist der Zustand des Christentums heute?

Kardinal Koch: Man muss unterscheiden nach Kontinenten. Das Christentum ist in einer sehr kritischen Situation in Europa. Das betrifft alle christlichen Kirchen, nicht nur die katholische. Obwohl das Christentum in Europa gross geworden ist, ist es in einer fundamentalen Krise. Ganz anders in Afrika. Dort wächst das Christentum, ebenso in Asien. Weltweit nimmt die katholische Kirche jährlich zu, während wir in Europa von Kirchenaustritten reden. Lateinamerika wird ziemlich herausgefordert von einzelnen pentekostalen Bewegungen, wenn sie katholischen und reformierten Kirchen Mitglieder abwerben wollen.

Weltwoche: Warum legen die Evangelikalen dermassen zu?

Kardinal Koch: Sie legen einen starken Akzent auf die Erfahrung des Glaubens im konkreten Leben. Und manchmal lautet ihre Botschaft: Nimmst du diesen Glauben an, geht es dir gut.

Weltwoche: Was ist der tiefere Grund für die Krise des Christentums in Europa?

Kardinal Koch: Ein Grund ist die schwierige Situation der Kirchen selber, wenn ich an das schmerzliche Problem der Missbräuche denke. Doch die Kirchenaustritte, denke ich, haben auch mit anderen, tieferen Ursachen zu tun. Nicht nur Katholiken, auch Reformierte treten aus den Kirchen aus.

Weltwoche: Dieser Tage melden Schweizer Medien, es gebe mehr Austritte bei den Reformierten. Sie geben allerdings der katholischen Kirche und dem Missbrauch die Schuld daran.

Kardinal Koch: Die katholische Kirche hat viele Untersuchungen gemacht, auch Ergebnisse geliefert. Dies steht den reformierten Kirchen erst bevor. Ich vermute, die evangelische Kirche könnte mehr Problemfälle in den Familien haben. Statistisch gesehen finden 90 Prozent aller Missbräuche in der Familie statt. In der katholischen Kirche ist das so nicht der Fall, weil die Priester nicht verheiratet sind.

Weltwoche: Was steckt hinter diesen Skandalen, was ist die tiefere Ursache?

Kardinal Koch: Bei der christlichen Kirche ist es ein besonders schwer wiegender Missbrauch, weil die zwei intimsten Bereiche des Menschen miteinander in Konflikt kommen, nämlich die Sexualität und die Religion. Wenn nun unter dem Baldachin des Heiligen der Missbrauch stattfindet, dann wird der Baldachin zur Staubwolke. Meines Erachtens haben aber die Kirchenaustritte noch tiefere Gründe. Sie sind interessanterweise in Ländern markant, in denen es Kirchensteuern gibt.

Weltwoche: Die staatliche Vereinnahmung, die Verweltlichung, Politisierung der Kirche?

Kardinal Koch: Ich kann verstehen, wenn ein Gläubiger, gibt es schwierige Situationen in der Kirche, von der Kirche eine Zeitlang nichts mehr hören, Kirchenferien machen will. Das aber ist prinzipiell ausgeschlossen. Spätestens bei der Kirchensteuer merkt er, dass er immer noch drin ist. Viele Austritte ergeben sich wohl daraus. Aber die eigentlichen Ursachen wurzeln tiefer. Man hat Mühe mit all den Institutionen. Könnte man aus dem Staat austreten, wie viele würden es machen? Amerikanische Religionssoziologen reden von einer «unbekirchten Religiosität». Menschen sind irgendwie religiös, aber sie wollen diese Religiosität nicht kirchlich leben. Und wahrscheinlich ist da schon auch ein fundamentalerer Glaubensschwund.

Weltwoche: Die Priester, die Sachwalter des Glaubens, wenden sich vom Glauben ab?

Kardinal Koch: Dies wäre traurig. Manchmal setzen einzelne andere Akzente. Um ein Beispiel zu nennen: Man sah es am Anfang des synodalen Wegs in Deutschland. Der Papst schrieb damals einen langen Brief an das «in Deutschland lebende Volk Gottes». Die Hauptherausforderung sei die Evangelisierung. Bis heute klagt der Papst ja immer wieder, man habe seinen Brief nicht ernst genommen.

Weltwoche: Was heisst Evangelisierung?

Kardinal Koch: Die Verkündigung des Evangeliums.

Weltwoche: Woran krankt es?

Kardinal Koch: Wir sind wahrscheinlich zu wenig überzeugt von der Kostbarkeit und Schönheit der Botschaft, die wir zu verkünden haben, und wagen dann nicht, sie wirklich zu verkünden. Vielleicht liegt es auch daran, dass man den eigenen Glauben gar nicht mehr kennt. Als ich Bischof von Basel war, habe ich einige Kirchenaustritte von Reformierten erhalten. Ein Reformierter schrieb mir, er habe jetzt genug von diesem Verein, er wolle austreten und möchte, dass sein oberster Chef dies wisse. Ich schrieb ihm, er wisse offenbar nicht einmal, woraus er austrete, und schickte ihm die Adresse des reformierten Pfarrers.

Weltwoche: Was ist der tiefere Grund des Glaubenszweifels?

«Bereits in der ersten Klasse wollte ich Priester werden. Der allererste Wunsch war, Samichlaus zu werden.»

Kardinal Koch: Auf der einen Seite hat die historisch-kritische Forschung viele Zweifel gebracht. Ich will dabei kein Wort gegen die historisch-kritische Forschung sagen. Die muss sein, weil der christliche Glaube ja nicht einfach eine Theorie verkündet, sondern ein geschichtlicher Glaube ist. Aber die Forschung kann verunsichern. Ist dieser Jesus wirklich in Bethlehem geboren worden? Ist er denn tatsächlich der Sohn Gottes? Ist er am Kreuz für uns gestorben und auferstanden? Weiter hängt es zusammen mit der Privatisierung der Religion, Religion als reine Privatsache, die öffentliche Dimension der Religion wird in Frage gestellt.

Weltwoche: Wie lautet für Sie die zentrale Botschaft des Christentums? Was fasziniert, was begeistert Sie?

Kardinal Koch: Gott ist Liebe – und Vernunft. Deshalb sind Wahrheit und Liebe nicht zu trennen. Nur die Wahrheit der Liebe und die Liebe zur Wahrheit haben Zukunft. Das ist die entscheidende Botschaft, wie sie auch Papst Benedikt immer betont hat. Es gibt den Zusammenhang von Glauben und Vernunft. Benedikt ging davon aus, der Glaube sei wahr, darum müssten wir keine Angst haben, den Glauben der kritischen Vernunft auszusetzen. Er hat immer einen Weg gesucht jenseits von Fideismus, einer Einstellung, mit der man glaubt, auch wenn es absurd ist, und Rationalismus. Der Papst wollte einen vernünftigen Glauben, war aber gleichzeitig der Auffassung, der Vernunftbegriff müsse ausgeweitet werden, er sei zu sehr verengt aufs rein Mach- und Herstellbare, aufs Experimentierbare.

Weltwoche: Glauben heisst vertrauen auf das, was ich nicht gemacht habe, was mir aber ohne mein Zutun geschenkt wurde.

Kardinal Koch: Ja, die Vernunft muss den Glauben suchen und der Glaube die Vernunft. Oder wie es [. . .] Augustinus einmal ausgedrückt hat: Glaube, um zu erkennen. Erkenne, um zu glauben.

Weltwoche: Haben Sie jemals an Ihrem Glauben gezweifelt?

Kardinal Koch: Ich habe es immer als ein grosses Geschenk empfunden, dass ich glauben kann. Ich kam nicht durch Zweifel zum Glauben, sondern empfand den Glauben stets als etwas Schönes und Wahres. Erst später setzte das Nachdenken ein. Aber nicht, um den Glauben in Frage zu stellen, sondern um ihn besser zu verstehen. Dazu gehört das Fragen. Mein Glaube ist nicht mein Verdienst.

Weltwoche: Schon als Kind?

Kardinal Koch: Ja. Bereits in der ersten Klasse wollte ich Priester werden. Der allererste Wunsch war, Samichlaus zu werden, als Dreijähriger. Das habe ich nicht geschafft, aber ich musste ein wenig lachen, als Papst Johannes Paul II. mich am 6. Dezember 1995 zum Bischof ernannt hat. Es gab doch noch ein bisschen «Chlaus» für mich.

Weltwoche: Sprechen wir nochmals über den Glauben. Wie würden Sie diesen Zugang zur Wirklichkeit beschreiben? Was bedeutet Glauben? Im Unterschied zum Wissen und Forschen. Wie definieren Sie Gott?

Kardinal Koch: Gott ist nicht nur Mathematik, Physik, Vernunft, Naturgesetz, Logos, sondern eben vor allem auch Person und damit ansprechbar. Und Gott ist in sich Beziehung. Gott ist nicht der einsame Egoist im Himmel, er ist in sich selber Liebesbeziehung – in der Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist.

Weltwoche: Wie kommt man darauf, dass die Macht, die allem zugrunde liegt, ansprechbar sei für den Menschen? Liegt hier nicht eine Anmassung? Wir können Gott als das Allumfassende wohl bestaunen, aber mit ihm in Dialog treten?

Kardinal Koch: Ich kann nur mit Gott reden, weil er zuvor mit mir geredet hat. Und dies ist der Kerninhalt des christlichen Glaubens: Gott hat sich dem Menschen offenbart. Er ist kein stummer Gott, der schweigt, sondern ein Gott, der redet, der zum Volk Israel geredet hat, der zuhöchst in Jesus geredet und sich uns offenbart hat. Glauben heisst nicht erfinden. Glauben heisst: Gott hat sich mir offenbart, und meine Antwort lautet, dass ich ihm glaube.

Weltwoche: Wie stark hat diesen Glauben an Gott die Erfahrung zweier Weltkriege mit ihren ungeheuerlichen Gräueltaten erschüttert?

Kardinal Koch: Man muss schon sehen, dass die grössten Verbrechen im 20. Jahrhundert von antichristlichen, neuheidnischen Bewegungen vollzogen worden sind und gerade nicht aus religiösen Gründen. Hitler war nicht nur Antisemit, er war auch gegen das Christentum. Zunächst brauchte er es zwar, aber hätte er gewonnen, wäre es dem Christentum ähnlich ergangen wie dem Judentum.

Weltwoche: Warum hat Gott das unsägliche Leid zugelassen?

Kardinal Koch: Die Frage des Leidens ist schwierig. Wie kann Gott so etwas dulden? Ich muss sagen: Ohne Gott wäre das Leiden doch überhaupt nicht aushaltbar. Zudem erfordert es eine übergrosse Anstrengung, anzunehmen, die ganze Welt sei aus dem Zufall entstanden. Da brauche ich mehr Glauben, als wenn ich an Gott glaube. Wenn ich Gott als Vernunft und als Liebe sehe, kann ich auch verstehen, warum die Welt so ist. Ohne Gott könnte ich die Welt nicht verstehen.

Weltwoche: Was bedeutet für Sie der Begriff Hölle?

Kardinal Koch: Hölle ist die absurde, unmögliche Möglichkeit, wenn im Tod ein Mensch im Wissen um die Nähe Gottes sich Gott verweigert. Ich kann nicht wissen, wer in der Hölle ist. Ich kann auch nicht sagen, dass es keine Hölle gibt. Der christliche Glaube aber sagt uns, dass Gott den Menschen als freies Wesen erschaffen hat und deshalb seine Freiheit respektiert. Wenn aber ein Mensch in der letzten Begegnung mit Gott im Tod sich Gott weiterhin verweigert, dann wird Gott auch diese Freiheit respektieren und den Menschen nicht mit Gewalt in den Himmel zerren. Dies aber bedeutet, dass der Mensch die Hölle im Grunde selbst wählen würde. Ob je ein Mensch sich so entscheidet, kann ich nicht wissen; ich kann nur hoffen, dass kein Mensch es tun wird. Ein protestantischer Theologe im 19. Jahrhundert hat gesagt: Wer nicht annimmt, dass es Gott gelingt, alle Menschen zu retten, ist ein Esel. Wer das aber lehrt, ist ein Ochse. Zwischen beidem muss man den Weg suchen.

Weltwoche: Der Theologe Karl Barth schrieb in seinem «Römerbrief», die Lebensproblematik eines Dschingis Khan oder eines Lenin, beide haben Millionen in den Tod gestürzt, sei die Lebensproblematik eines jeden Menschen, einfach ins Groteske überzerrt. Niemand solle sich deshalb einbilden, ein besserer Mensch zu sein, denn niemand weiss, was er gemacht hätte, wäre er der Macht und den Versuchungen eines Dschinghis Khan ausgesetzt gewesen. Demnach käme ja wohl auch der Bösewicht in den Himmel, denn das Böse ist eine Möglichkeit des Menschen, und der Mensch, jeder Mensch, ist von Gott geliebt, angenommen.

Kardinal Koch: Ich kann Gott nur bitten, es möge ihm gelingen, auch den härtestgesottenen Sünder zu erweichen. Ich kann es aber nicht wissen und deshalb nicht lehren.

Weltwoche: Weil es eine Anstiftung zum Bösen wäre?

Kardinal Koch: Es gibt ein eindrückliches Bild bei Origenes. Bei Origenes ist das Böse kalt. Bei uns ist die Hölle heiss. Origines ist der Überzeugung, der böse Mensch sei ein Eisschrank, aber wenn er in die strahlende Wärme Gottes komme, werde auch er noch auftauen. Darum kann ich beten, dass es geschieht, aber ich kann es nicht voraussetzen. Damit würde ich mich an die Stelle Gottes setzen und sein Gericht vorwegnehmen.

Weltwoche: Das Böse ist das überschiessende Gute. Der Mensch ist dann am gefährlichsten, wenn er glaubt, das Gute zu verwirklichen.

Kardinal Koch: Hitler war überzeugt, das Beste für Deutschland zu tun. Das zeigten auch die Nürnberger Prozesse. Die führenden Nazis glaubten, sie hätten nur das Gute gewollt. An der Wurzel des Bösen steht die Unfähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

Weltwoche: Kann der Mensch zwischen Gut und Böse unterscheiden, oder kann das am Ende nur Gott? Was bedeutet in diesem Zusammenhang das Gleichnis vom Sündenfall? Dort essen Adam und Eva ja verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Folgt daraus, der Mensch könne Gut von Böse scheiden, oder folgt daraus gerade das Gegenteil?

Kardinal Koch: Nach christlicher Auffassung kann der Mensch unterscheiden zwischen Gut und Böse, aber letztlich nur in der Beziehung zu Gott als dem schlechthin Guten. Der Mensch kann unterscheiden, wenn er konsequent auf sein Gewissen horcht, weil der christliche Glaube überzeugt ist, dass im Gewissen Gott sich vernehmbar macht mit seiner Wahrheit und seiner Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Das setzt voraus, dass der Mensch aus Gewissensgründen und nicht einfach aus gewissen Gründen handelt.

«Die Frage des Leidens ist schwierig. Aber ohne Gott wäre das Leiden doch überhaupt nicht aushaltbar.»Weltwoche: Aber der Mensch bleibt angewiesen auf seine Beziehung zu Gott.

Kardinal Koch: Und das Gewissen muss gebildet, orientiert sein.

Weltwoche: Was bedeutet für Sie die Figur Jesus, Gottes Sohn, geboren nicht in einem Palast als Grosskönig in Gold und Ornat, sondern als verletzliches Baby in einem Kuhstall, Schwächster der Schwachen, schliesslich gefoltert und ans Kreuz genagelt als Verbrecher, verspottet, ermordet, ohne dass er, der Allmächtige, seine Macht gegen seine Peiniger gerichtet hätte, sondern, im Gegenteil, sie noch verteidigt hat, «denn sie wissen ja nicht, was sie tun», es sei ihnen also zu vergeben? Dies zu einer Zeit, als nur das Starke und Schöne vergöttert wurde im römischen Kaiserreich.

Kardinal Koch: Der reformierte Schriftsteller-Pfarrer Kurt Marti hat es einmal in einem Gedicht ausgedrückt: «Gott gerne klein». Man sagt von einem Kind, es sei der Gernegross. Gott ist der Gerneklein. Dass Gott sich so klein macht ​​​​​[. . .] Es gibt eine schöne Interpretation eines mittelalterlichen Theologen. Er sagt, Gott sei dem Menschen immer in seiner Allmacht begegnet und der Mensch habe Angst bekommen vor diesem Gott, habe sich in seiner Freiheit bedroht gefühlt, darum habe sich Gott entschieden, Mensch zu werden, Kind zu werden, damit er auf Augenhöhe dem Menschen begegne und der Mensch nicht mehr Angst haben müsse, sondern die Liebe Gottes nur noch mit Gegenliebe zu erwidern in der Lage sei. Gott selber wird so klein, dass er keine Bedrohung mehr ist für den Menschen. Dann muss sich aber auch der Mensch kleinmachen. Denn wenn ich das Kind in der Krippe anschauen will, muss ich in die Knie gehen.

Weltwoche: Ist ein Gott, der sich foltern und ans Kreuz nageln lässt, ohne seine Macht einzusetzen, ist dies nicht ein Gott, der im Moment seiner Kreuzigung seine Allmacht abgegeben hat?

Kardinal Koch: Was bedeutet Allmacht? Auf Allmacht im weltlichen Sinn verzichtet Gott, beweist aber eine neue Form der Allmacht, die der Liebe. Das ist die wahre Allmacht. Insofern ist Gott nie so allmächtig wie in der Ohnmacht am Kreuz. Das ist natürlich höchst paradox.

Weltwoche: Was ist der tiefere Sinn dieses Selbstopfers am Kreuz? Warum sagt man, Gott sei für die Menschen, für uns, für mich gestorben?

Kardinal Koch: Jesus hat in der Bergpredigt die Feindesliebe gelehrt: Ich soll auch meine Feinde lieben. Aber Jesus hat es nicht nur gelehrt, er hat es auch gelebt. Und das, glaube ich, wird sichtbar am Kreuz. Von seiner Liebe lässt er nicht los, auch wenn die bösen Mächte gegen ihn selber entbrennen. Lieber lässt er sich ans Kreuz nageln, als dass er selber Gewalt anwendet.

Weltwoche: Inwiefern ist Jesus Christus für mich, für die Menschen gestorben?

Kardinal Koch: Indem er uns erlöst von dem Bösen und der Sünde, die in jedem Menschen sind, was der christliche Glaube als Erbsünde bezeichnet.

Weltwoche: Worin besteht die Erlösung?

Kardinal Koch: Indem er uns seine ganze Liebe schenkt, selbst im Angesicht des Bösen, so dass auch wir durch ihn liebesfähiger werden und ewig bei ihm leben.

Weltwoche: Obwohl der Mensch, dieser himmeltraurige Kerl, den ihm mit Liebe begegnenden Gott auf schändlichste Weise ermordet, wird er nicht verworfen, bleibt er geliebt von Gott.

Kardinal Koch: Mit der Konsequenz, dass auch wir uns dann ändern. Wenn ein Auto im Morast ist, kann man die Räder drehen, wie man will, es nützt rein gar nichts. Man muss ein Brett darunterlegen, dann fährt es weiter. Ich würde dieses Bild nehmen für das, was Jesus am Kreuz tut. Er legt sozusagen sich selbst als Brett hin, damit wir wieder fahren können.

Weltwoche: Wie ist es möglich, dass die Kirchen das Vertrauen, die Begeisterung für diese so faszinierende Geschichte verloren haben, eine Geschichte, die so gegen alles zielt, was der Mensch, schon damals, für göttlich hielt, Geld, Macht, Stärke, Sex, Schönheit, das Christentum ist das Gegenteil. Wo klemmt es?

Kardinal Koch: Weil viele eben doch wahrscheinlich glauben, wir hätten diese Geschichte selber erfunden, diese Geschichte sei nicht mehr glaubwürdig. Wir sind uns nicht mehr bewusst, dass wir diese Botschaft nicht erfunden haben, sondern dass sie uns von Gott geschenkt wurde. Stellen wir uns für einen Moment vor, Gott hätte uns gefragt, wie wir uns die Erlösung ausdenken. Ich glaube nicht, wir wären auf die Idee gekommen, er solle dies mit einem schreienden Säugling anfangen und mit einem Verbrechertod am Kreuz beenden. Wir hätten uns schönere, erhabenere Vorstellungen ausgedacht.

Weltwoche: Die christliche Botschaft ist so gegen unsere vordergründigen Neigungen und Instinkte, dass wir sie uns nie selber hätten ausdenken können.

Kardinal Koch: Jesus ist Lamm. Das ist das biblische Bild dafür.

Weltwoche: Kein Wolf, kein Raubvogel, den die Legionen Roms auf ihren Standarten trugen.

Kardinal Koch: Wir hätten wohl einen Löwen als Sinnbild gewählt, den Löwen, der mit seinen Tatzen in diese Welt hineinschlägt. Darum haben Könige den Löwen im Wappen. Oder die Römer verehrten den Wolf, von dem die Stadtgründer abstammen sollen. Nein. Jesus kommt als Lamm. Das ist die Erlösung der Welt.

Weltwoche: Was bedeutet es, wenn unsere Welt den Glauben, das Christentum verliert?

Kardinal Koch: Der Volksmund drückt es so aus: Wer den Glauben zur Haupttür hinausschickt, empfängt den Aberglauben durch die Hintertür. Das ist immer der Fall. Überall dort, wo der Mensch nicht an die Transzendenz Gottes glaubt, steht er in der Versuchung, weltliche, endliche Dinge zum Höchstwert zu erklären – Ideologie. Der Tod Gottes hat letztlich den Tod des Menschen zur Konsequenz.

Weltwoche: Den Tod des Menschen?

Kardinal Koch: Den Tod des Menschen in seiner Würde. Es ist kein Zufall, dass in der heutigen Leistungsgesellschaft zwei Probleme miteinander aufs Tapet gekommen sind. Da ist die Frage der Abtreibung und die Frage der Euthanasie. Wenn die Leistung zum Höchstwert wird, dann hat menschliches Leben, das noch nichts leisten kann, das ungeborene, kindliche Leben, und das menschliche Leben, das nichts mehr leisten kann, das alte, kranke, sterbende, keinen hohen Kurswert mehr. Dass wir heute die grossen Probleme am Anfang und am Ende des Lebens haben, hängt auch mit dem Verlust des Glaubens zusammen.

Weltwoche: Was ist heute für die Institution der Kirche die grösste Gefahr?

Kardinal Koch: Die grösste Gefahr ist, dass die Kirche von ihrer christlichen Botschaft nicht mehr ausreichend überzeugt ist und diese Botschaft auch nicht mehr weitergeben kann. Wenn sie Abstriche macht an der Botschaft, sich zurückzieht, sich nicht mehr vertieft in die Botschaft, sie verkündet, aus der Überzeugung, den Menschen das grösste Geschenk überhaupt geben zu können. Denn wenn der Mensch den Glauben verliert, sucht er Ersatz. Und Ersatz führt nicht weiter. Schon Ende der fünfziger Jahre prophezeite Joseph Ratzinger, in der Kirche entstehe ein neues Heidentum. Nicht Heiden werden Christen werden, sondern Christen werden Heiden werden, innerhalb der Kirche.

«Schon Ende der fünfziger Jahre prophezeite Ratzinger, in der Kirche entstehe ein neues Heidentum.»Weltwoche: Die Kirche rennt falschen Göttern hinterher, tanzt ums Goldene Kalb, verfällt der Anmassung, verliert die Demut und kann keine Fehler zugeben. Haben wir hier nicht die exakte Ursache für das Versagen der Kirche im Umgang mit den Missbrauchsfällen? Man wollte nichts auf den trügerischen Glanz der Institution kommen lassen.

Kardinal Koch: Das ist ein sehr komplexes Problem. Ich war als Bischof selber schockiert. Meine erste Reaktion, konfrontiert mit den Enthüllungen, war: Das ist doch nicht möglich. Das machen Priester nicht. Das war die erste Reaktion. Heute heisst es, man habe die Institution schützen wollen. Dies trifft sicher nicht in jedem Fall zu. Am Anfang war es auch eine Überforderung, eine Unfähigkeit: Wie geht man damit um. Zudem war es damals nicht absehbar, dass die Missbräuche ein solches Ausmass angenommen haben. Das Zweite: In der Vergangenheit haben Bischöfe oft Psychiater gefragt, was zu tun sei, und die Antwort erhalten, man solle den Betreffenden in die Therapie schicken, dann könne man ihn wieder einsetzen. Geändert hat sich das Verhalten in der Kirche erst, wenn die Opfer des Missbrauchs in die Mitte der Aufmerksamkeit gekommen sind.

Weltwoche: Missbrauchsfälle kommen überall vor, aber die Kirche hat im Umgang damit versagt – eben weil zu viele in der Kirchenhierarchie das Problem nicht sehen wollten.

Kardinal Koch: Sie haben recht. Sicher hat die Kirche einen sehr hohen Anspruch, sie muss ihn auch haben. Aber sie muss ihn auch an sich selber stellen. Und wenn sie das nicht tut, dann wird sie schuldig. Einer, der dies als Erster realisiert und ausgesprochen hat, war übrigens Kardinal Joseph Ratzinger. 2005 hielt er, weil Papst Johannes Paul II. schwerkrank war, den Kreuzweg in Rom. Bei einer Station sprach er vom «erbärmlichen Schmutz» innerhalb der Kirche und bat Gott um Verzeihung. Das wurde damals gar nicht so richtig realisiert.

Weltwoche: Lösen die Skandale einen Läuterungsprozess aus? «Brauchte» es diese Skandale gar, um die Kirche von der Anmassung zu befreien?

Kardinal Koch: Auch innerhalb der Kirche ist die Erbsünde nicht einfach überwunden, sie ist genauso da, aber vielleicht haben das einige vergessen, verdrängt, nicht wahrhaben wollen.

Weltwoche: Man wollte es sich nicht eingestehen.

Kardinal Koch: Kardinal Ratzinger ging noch weiter. 2009 war das Jahr des Priesters, und gerade damals rief er aus: Dass dieser Schmutz ausgerechnet im Priesterjahr aufscheine, müsse uns zu denken geben. Er handelte auch danach. Hans Küng warf ihm vor, er habe alle Fälle in die Glaubenskongregation gezogen, um sie zu vertuschen. Das Gegenteil war der Fall. Er sah, es passierte nichts, also bat er den Papst, seiner, Ratzingers Behörde, das Dossier anzuvertrauen. Er hat klar erkannt, dass wir versagt haben und schuldig geworden sind.

Weltwoche: Was wünschen Sie sich am Anfang dieses Jahres? Was muss passieren in der christlichen Welt?

Kardinal Koch: In erster Linie wünsche ich mir, dass der Mensch wieder zur Vernunft kommt und mit diesen schrecklichen Kriegen aufhört. Das Christentum hat hier einen wesentlichen Beitrag zu leisten, weil es eine klare Sicht hat, was Frieden heisst. Frieden muss mit Gerechtigkeit verbunden sein, gebunden auch an die Ehre Gottes. Nehmen wir den Weihnachtsgesang der Engel ernst – Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens. Wir hören immer gern den zweiten Teil und vergessen den ersten. Nur wenn Gott die Ehre gegeben wird, die ihm gebührt, kann auch wirklich Frieden auf Erden sein. Der Missbrauch der Religion, um Kriege zu rechtfertigen, ist deshalb ein besonderes Übel.

Weltwoche: Was haben diese Kriege mit dem Glaubensverlust zu tun? Wer nicht an Gott glaubt, sucht sich Ersatzgötter, vergöttert sich selbst und ist unfähig, andere Menschen, andere Kulturen zu verstehen. Konflikte sind die Folge.

Kardinal Koch: Mag sein. Krieg ist immer ein Ende der vernünftigen menschlichen Auseinandersetzung. Eine wesentliche Wurzel der beiden mörderischen Weltkriege ist der Nationalismus gewesen, bei dem die Position der eigenen Nation verabsolutiert und gegen andere Sichten gestellt wird. Auch im Zeitalter der Globalisierung ist der Nationalismus noch nicht überwunden, sondern greift weiter um sich. Die Menschheit hat die Kriege gelernt, sie muss sie aber dringend wieder verlernen. Es wird zwar nie eine konfliktfreie Welt, aber es muss eine kriegsfreie Welt geben. Die Religion muss dazu ihren Beitrag leisten, indem sie nicht Teil der Konflikte, sondern Teil von deren Lösung ist. Denn die Zwillingsschwester der Religion ist niemals Gewalt und Krieg, sondern Friede und Gerechtigkeit.