Wasserstoff oder Hydrogen, das chemische Element mit dem Symbol H, hat im Energiesektor den Nimbus eines Heilsversprechens, wird das Gas doch mit vielen Erwartungen verbunden. Denn das Element ist nicht nur im chemischen Periodensystem die Nummer 1, sondern zum Beispiel auch im Weltall, das zu über 90 Prozent aus Wasserstoff besteht. Geruchlos, unsichtbar und ungiftig, bietet er sich als wichtiger Energieträger an; er muss allerdings aus chemischen Verbindungen herausgelöst werden, bevor er gespeichert oder gebraucht werden kann – etwa aus Wasser. Anschliessend lässt er sich aber umweltfreundlich und klimaneutral nutzen. Beim Verbrennungsprozess bleibt am Schluss nur Wasser übrig.

Für Energiewende und Klimapolitik ist Wasserstoff ein grosses Thema, vor allem dann, wenn bei der Herstellung auf erneuerbare Energien gesetzt wird, um sogenannt grünen Wasserstoff herzustellen (siehe auch Artikel «Farbenlehre», zur Story). Der grosse Nachteil ist allerdings ein relativ geringer Wirkungsgrad. Bei der Herstellung von Wasserstoff und dessen Aufbereitung für die Nutzung gehen insgesamt noch rund 60 Prozent oder mehr der Energie verloren.

Für Axpo sei das grosse Thema die Umlagerung von Energie vom Sommer in den Winter.Welche Rolle spielt Wasserstoff für ein grosses, international tätiges Energieunternehmen wie die Axpo-Gruppe? Wie Martin Koller, Head Group Strategy & Economics bei Axpo, darlegt, setzt man auf grünen Wasserstoff als einen der Pfeiler der Energiewende. Dieser Bereich sei im Konzern als strategisches Wachstumsfeld definiert worden. «Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, muss die Schweiz ihren CO2-Ausstoss signifikant reduzieren und fossile Energieträger durch Alternativen ersetzen», sagt er. Und Teil dieser Dekarbonisierungsstrategie sei der grüne Wasserstoff, der vor allem in den Bereichen Stromproduktion, Industrie und Mobilität zu den wichtigsten klimafreundlichen Energieträgern der Zukunft gehöre. «Weil Axpo beim Übergang zu einer CO2-freien Energieversorgung eine tragende Rolle spielen will, haben wir die Aktivitäten im Geschäftsfeld Wasserstoff intensiviert», erklärt Koller.

Zwanzigfache Menge

Martin Koller räumt ein, dass die Prozesse bei der Wasserstoffherstellung und beim Umgang damit momentan noch ziemlich ineffizient und darum nicht wirtschaftlich seien. «Die Technologie ist aber noch nicht ausgereizt, Verbesserungen dürfen erwartet werden.» Wie schnell die Fortschritte erfolgten und wie viel dies kosten werde, könne er nicht voraussagen, aber bei der Fotovoltaik habe man gesehen, wie stark und wie rasch sich die Technologie verbessert habe.

Axpo als grosses Energieunternehmen sei breit abgestützt. «Wenn man im Stromgeschäft tätig ist, kann man nicht nur mit Strom handeln, sondern muss auch die damit verbundenen commodities in der Hand haben, insbesondere Gas, selbst wenn man selber keine Gaskraftwerke hat», erklärt Koller die Abhängigkeiten. Strom- und Gasmarkt hingen eng miteinander zusammen, das ergebe Absicherungsmöglichkeiten. «Und wenn man auf dem Gasmarkt zu Hause ist, dann ist man es längerfristig automatisch auch auf dem Wasserstoffmarkt.» Er geht davon aus, dass in den nächsten zwei Jahrzehnten ein internationaler Markt für grünen Wasserstoff und Synthesegas entstehen wird, da werde Axpo «in der Produktion und im Handel mit Bestimmtheit dabei sein».

Aus diesem Grund startete Axpo beim Wasserkraftwerk Reichenau mit dem Bau ihrer ersten Wasserstoff-Produktionsanlage (siehe Artikel zur Story). Sie ist laut Koller von Grösse und Output her so bemessen, dass man Endkunden mit grünem Wasserstoff beliefern kann. In dieser Art habe man einige weitere, zum Teil grössere Projekte in der Pipeline, die aber noch nicht spruchreif seien oder sich im Bewilligungsverfahren befänden.

Gegenwärtig beträgt in der Schweiz die Nachfrage nach Wasserstoff rund dreizehn Tonnen pro Jahr, was laut Koller im europäischen Vergleich relativ wenig ist. Davon gehen 85 Prozent in die Ölraffinerien, je 5 Prozent beziehen die Uhren- und die Chemiebranche sowie die synthetische Kristallbearbeitung. Wasserstoff wird in der Industrie auch als chemisches Element verwendet und ist geeignet für Hochtemperaturprozesse.

Und wie wichtig wird Wasserstoff für die Stromproduktion? Für Axpo sei das grosse Thema die Umlagerung von Energie vom Sommer in den Winter. Für kurzfristige Pufferungen seien Batterien oder Pumpspeicherwerke effizienter, aber für die saisonale Umlagerung, die Deckung der Nachfragespitzen im Winter, werde man «um Wasserstoff nicht herumkommen», ist Koller überzeugt. Vor allem dann nicht, wenn der Ausbau von alpiner Fotovoltaik und Windanlagen nicht richtig vorankomme oder keine anderen winterproduktionsfähigen Technologien gebaut werden könnten. Im Hinblick auf das Ziel «netto null 2050» werde die Wasserstoffnachfrage in ganz Europa jedenfalls gewaltig sein – sowohl bei der produzierenden Industrie für ihre Prozesse wie auch, ganz besonders, in der Stromproduktion. «Ich schätze die Menge auf das rund Zwanzigfache von heute», ist seine Voraussage.

Dann besser gleich Erdgas

Mit Blick auf das Klimaziel präzisiert Koller: Wasserstoff sei von derart grosser Bedeutung, weil er viel zur Dekarbonisierung beitragen könne, «aber nur, wenn wir von grünem Wasserstoff aus CO2-neutralen Quellen reden». Die Herstellung von grauem oder blauem Wasserstoff ergebe keinen Sinn, denn dann nehme man besser gleich Erdgas, was viel effizienter und ökologisch ähnlich gelagert sei. Zudem könne man auf eine vorhandene Infrastruktur zurückgreifen.

Dass die Schweiz in jedem Winter Strom importieren muss, wird sich nach Kollers Einschätzung in den nächsten zwanzig Jahren höchstwahrscheinlich nicht ändern. «Deshalb muss man die Versorgungssicherheit zwar national denken, aber international lösen.» Die internationalen Abhängigkeiten, die meistens gegenseitig seien, müsse man mit den Partnern im Ausland vertraglich regeln. Sei es mit Ländern, die grünen Wasserstoff herstellten, sei es mit umliegenden Ländern, mit denen man ein technisches Stromabkommen abschliesse. «Wir verfolgen als Axpo hinsichtlich Wasserstoff durchaus auch Projekte im Ausland und schauen, ob man sie zu etwas Grösserem entwickeln kann.»

Was der Versorgungsauftrag bedeutet

Die Geschichte zeige, so Koller, dass sich alle Technologien immer weiterentwickelt hätten, das werde mit Sicherheit auch bei Wasserstoff der Fall sein. Mit den zu erwartenden industriellen Grössenvorteilen würden sich die Prozesse verbessern. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass man ganz neue Technologien sehen werde. «Sich aber darauf zu verlassen und jetzt nichts zu tun, hielte ich für den komplett falschen Weg.» Axpo müsse mit den Technologien arbeiten, die heute verfügbar seien, aber zugleich offen sein für Neues.

Die Herstellung von grauem oder blauem Wasserstoff ergebenkeinen Sinn.Eigene Grundlagenforschung betreibe Axpo nicht, beobachte aber die Aktivitäten bei der Grundlagenforschung intensiv, um abschätzen zu können, was auf das Unternehmen zukomme. Bei jeder Technologie müsse man sich überlegen, wie sie in ein Marktgefüge einzugliedern sei und wie man einen Markt aufbauen könne. Wenn man über Versorgungssicherheit spreche, dann sei es ein strategischer Entscheid, dass man über ein breites Portfolio mit verschiedenen Technologien verfüge. Je mehr man sich auf wenige Technologien konzentriere, desto anfälliger sei man auf unerwartete Ereignisse wie zum Beispiel die Gaskrise im letzten Jahr oder meteorologische Ausnahmesituationen. Gerade für einen Staat sei es sinnvoll, breit abgestützt zu sein. «Weil Axpo ihren Teil zur Versorgungssicherheit leisten will, muss sie auch in verschiedenen Technologien zu Hause sein, um im übergeordneten Portfolio des Staates eine tragende Rolle spielen zu können.»

Wird sich grüner Wasserstoff rein marktgetrieben durchsetzen? Für Koller ist dies momentan noch unklar. Die Versorgungssicherheit sei ein öffentliches Gut und werde nicht allein durch den Markt geregelt. Deshalb müsse der Staat wohl eine gewisse Rolle übernehmen, heute halte er die Forderung danach aber noch für zu früh, erklärt er. Ausserdem sei auf dem internationalen Markt die rechtliche Situation zu beachten, die der staatlichen Unterstützung Grenzen setze.