Das Stimmvolk wird in der Schweiz «Souverän» genannt, weil es uneingeschränkt über den Inhalt der Bundesverfassung bestimmt. Sogar das Verhältnis zum Völkerrecht regelt hierzulande der Souverän. In der Realität propagieren gewisse Politiker aller-dings einen generellen Vorrang der in internationalen Gremien ausgehandelten Regeln. Nur so, wird behauptet, liessen sich Grund- und Freiheitsrechte wirksam schützen. Ansonsten drohe eine «-Tyrannei der Mehrheit». In diesem Geiste wurden schon Volksinitiativen für ungültig erklärt oder – trotz Annahme durch Volk und -Stände! – nicht umgesetzt.

Der ehemalige SVP-Nationalrat Ulrich -Schlüer wollte bereits 2007 vom Bundesrat wissen, ob auch einer Volksinitiative auf Einführung der Scharia die Gültigkeit abgesprochen würde. Immerhin sind Steinigung oder das Hängen von Homosexuellen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht in Einklang zu bringen. Der Bundesrat sah allerdings «keinerlei Veranlassung, sich mit einer nach der Vorstellung des Interpellanten hypothetisch denkbaren Volksinitiative über die Einführung der Scharia in unserem Land auseinanderzusetzen».

 

Zustrom neuer Fanatiker

Eine – scheinbar – klare Regelung findet sich im deutschen Grundgesetz (GG). Im Bestreben, den sogenannten Verfassungskern, den Schutz der Menschenwürde und die freiheitlich-demokratische Grundordnung, dauerhaft zu schützen, verbietet Artikel 79 Absatz 3 deren Änderung. Das ist allerdings nicht so kategorisch gemeint, wie es scheinen mag. Verboten ist «eine prinzipielle Preisgabe» der genannten Grundsätze. Dafür gewährt Artikel 20 allen Deutschen das Recht zum Widerstand «gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist».

Die paar hundert Muslime, die in Deutschland lautstark ein Kalifat fordern und ihre Vorstellung von Zucht und Ordnung mit Gewalt durchsetzen, wollen die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen. Das findet Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zwar «schwer erträglich», mehr aber auch nicht. Sie denkt nicht daran, wenigstens den Zustrom neuer Fanatiker zu bremsen oder Umstürzler entschlossen ausser Landes zu schaffen. Weiterhin subventioniert die Ampelregierung das Schleppen von Menschen, die möglichst rasch und unbürokratisch eingebürgert werden sollen.

Dass auch die ansässigen Bürgerinnen und Bürger verbriefte Rechte haben, wird verdrängt. Die Ausübung des Widerstandsrechts erscheint nicht ratsam. Es fällt schwer, die Idee vom politisch gewollten Bevölkerungsaustausch als reine Verschwörungstheorie abzutun. Sicher ist von den Regierenden keine Abhilfe zu erwarten.

Auch Covid machte schmerzhaft klar, dass Grund- und Freiheitsrechte nicht so sicher sind, wie uns die Politiker gerne weismachen: Im -Wissen um mögliche Todesfolgen verabschiedete der Bundestag eine einrichtungsbezogene Impfpflicht. Man behauptete, dass man damit mehr Menschenleben retten könne, als dass Menschen zu Schaden kommen würden. Doch genau diese Abwägung stellt eine Verletzung der Menschenwürde dar, wie das Verfassungsgericht schon mehrfach klarstellte. Nicht einmal der berühmte Artikel 1 des Grundgesetzes ist den Politikern also noch -heilig.

 

Optimaler Schutz

Am 29. April 1954 hielt der Rektor der Universität Zürich, Zaccaria Giacometti, eine bedeutende Rede, in der er festhielt, dass die politische Reife des Volkes die wichtigste Voraussetzung für den optimalen Schutz der Menschenrechte sei.

Wörtlich führte er aus: «Erstens muss die Freiheitsidee im Individuum und im Volke lebendig und das rechtsstaatliche Naturrecht zwar nicht als Recht, aber als ethische Kraft wirksam sein; es müssen [. . .] freiheitliche Wertvorstellungen herrschen, aber nicht als vom Augenblick geborene euphoristische Stimmungen oder opportunistische Eingebungen, sondern als tiefe politische Überzeugungen, die das Bewusstsein des Volkes dauernd beherrschen und von den treibenden Kräften des politischen Lebens getragen werden. Zweitens muss das Volk eine freiheitliche Tradition besitzen. Seine freiheitlichen Überzeugungen müssen in einer solchen Tradition verwurzelt sein. Tradition ist aber [. . .] geschichtliches Bewusstsein, und freiheitliche Tradition infolgedessen freiheitliches historisches Bewusstsein. Ein solches geschichtliches Bewusstsein besitzt aber die Demokratie in dem Falle, dass eine freiheitliche Vergangenheit auf sie nachwirkt, dass also die vorausgegangene Generation der lebenden Generation einen Schatz an freiheitlichen politischen Vorstellungen, Anschauungen und Erfahrungen überliefert hat. Drittens muss sich die lebende Generation diesen ererbten Schatz an freiheitlichen politischen Einsichten und an freiheitlichen politischen Erfahrungen ihrerseits aneignen, ja erkämpfen durch entsprechende politische Erziehung, Erprobung und Bewährung als Verfassungsgesetzgeber und einfacher Gesetzgeber einer echten Demokratie.»

Das beantwortet die Eingangsfrage: Eine reife Demokratie lässt kein Kalifat zu.

 

Claudio Zanetti ist Jurist und früherer SVP-Nationalrat.