Mit automatisierter Abwehr reagieren die Medien auf die Sensationswahlen in Österreich. Zum ersten Mal ging die Freiheitliche Partei (FPÖ) mit ihrem Vorsitzenden Herbert Kickl als Erste durchs Ziel. Mit grossem Abstand vor den ewig regierenden ÖVP und SPÖ. Das Resultat ist historisch. Mit den fast 29 Prozent ĂŒbertrumpfte der asketische Bergsteiger aus KĂ€rnten sogar den mittlerweile als «legendĂ€r» geltenden, manischen Genius Jörg Haider. Die bisher oft absturzbedrohte Fieberkurvenpartei FPÖ schwingt unter ihrem neuen Chef, berechenbarer geworden und intellektuell wieder kantiger, obenaus.

Am Wahlsonntag war ich in Wien. Das mutmasslich schönste Parlament der Welt strahlte besonders prĂ€chtig. Der Zufall wollte es, dass ich tags zuvor zum 80. Geburtstag des frĂŒheren tschechischen PrĂ€sidenten und Wirtschaftswissenschafter Milos Zeman eingeladen war. Dort traf ich unter anderem VĂĄclav Klaus, ehemaliger PrĂ€sident, MinisterprĂ€sident und Wirtschaftswissenschaftler auch er, Zemans lebenslanger Gegenspieler und Rivale, der eine links, der andere rechts: zwei intellektuelle Schwergewichte, die jetzt, am Geburtstag, freundschaftlich nebeneinandersassen.

Klaus macht mich auf ein interessantes Problem aufmerksam, das im Zusammenhang mit den österreichischen Wahlen mehr Aufmerksamkeit erhalten sollte. In Europa verbreite sich eine neue gefÀhrliche Ideologie. Klaus nennt sie «Progressivismus», eine an den einstigen Kommunismus erinnernde Lehre, die auf die Umgestaltung unserer Gesellschaft, ja des Menschen zielt, kollektivistisch, antiliberal und am Ende auch gegen Rechtsstaat und Demokratie gerichtet. Seinen Ausdruck findet dieses Denken allerdings nicht in einer «Planwirtschaft» nach sozialistischem Muster. Klaus spricht vom Vormarsch der von oben «administrierten Wirtschaft», des «administrierten Lebens» durch den Staat, vor allem durch die EuropÀische Union.

Demokratische Politik, erklĂ€rt mir Klaus, sei im Grunde immer lokal, regional oder national. DarĂŒber hinaus könne es weder Rechtsstaat noch Demokratie geben. Das erinnert mich an fast gleichlautende Aussagen des grossen liberalen deutschen Soziologen Ralf Dahrendorf. Die EU, sagt Klaus, sei ihrem Wesen nach ĂŒbernational und daher von ihrem Wesen her undemokratisch. Zu ihrer Rechtfertigung könne sie sich nicht auf ein europĂ€isches Volk berufen, auf keinen Demos. Stattdessen «erfinde» sie laufend Â«ĂŒbernationale Probleme», die zu lösen sie angeblich berufen sei. Der Klimawandel sei ein Beispiel, aber auch die Konfrontation gegenĂŒber Russland. «Glaubst du», fragt mich Klaus, «auch nur ein EU-Mitgliedstaat hĂ€tte Russland den Wirtschaftskrieg erklĂ€rt oder mit einseitigen Waffenlieferungen einen konventionellen riskiert?» Nur die EU, eine Art Scheinriese der Politik, tue dies, ziehe dann aber die Mitgliedstaaten hinein.

Klaus’ Theorie klingt ĂŒberzeugend. Und die Leute merken allmĂ€hlich, wie ĂŒber ihre Köpfe hinweg politische Entscheidungen getroffen werden, Entscheidungen, zu denen sie nie gefragt wurden und die sich zusehends gegen ihre Interessen richten. Die Auswirkungen sehen, erleben sie in ihrem Alltag, auf den monatlichen Heizkostenrechnungen, bei den migrationsgetrieben steigenden Mieten und KriminalitĂ€tsraten, an der Verwahrlosung der InnenstĂ€dte und den wirtschaftlichen Problemen, die auch eine Folge der Konfrontation mit Russland wegen der Ukraine sind. Immer unverfrorener regieren die Behörden ins Leben der BĂŒrger hinein, meist im Namen Â«ĂŒbernationaler Herausforderungen» wie Klima, Corona oder Krieg, fĂŒr die der Nationalstaat, wie behauptet wird, zu schwach sei. Die Überfliegerpolitik löst aufgrund ihrer schlechten Resultate Befremden, Verstörung, Widerstand aus. Auch immer mehr Unternehmer melden sich zu Wort gegen «Planwirtschaft» und «BĂŒrokratisierung» aus BrĂŒssel.

Was den BĂŒrgern hier abhandenkommt, ist mit anderen Worten die Demokratie, die Kontrolle ĂŒber ihr Leben. Sie spĂŒren, dass sie von oben «administriert» werden sollen und dass die Institutionen der Demokratie im Rahmen des rĂ€umlich begrenzten, nationalen Rechtsstaats ihre Bedeutung verlieren, ja regelrecht ausgehöhlt werden durch die, wie der Fachbegriff lautet, «supranationale» Ebene, auf die sie kaum Einfluss haben. Es ist kein Zufall, dass jetzt, nicht nur in Österreich, Parteien Erfolg haben, die gegen diese grenzĂŒbergreifende Herrschaftsform auf die Barrikaden steigen. Die Leute fordern die Kontrolle zurĂŒck, die ihnen entwendete SouverĂ€nitĂ€t. Es ist eine Art Aufstand der nationalen Demokratie gegen die «supranationale» Nicht-Demokratie, die von einer EU und anderen internationalen, demokratisch schwach legitimierten Institutionen verkörpert wird.

Der kluge und vermutlich unterschĂ€tzte Oppositionspolitiker Herbert Kickl, Anti-Blender und Nicht-Populist, der offenbar gerne auf einsame Wanderungen und Klettertouren geht, stellte dieses Unbehagen ins Zentrum, auch auf Wahlplakaten: «Ihr seid der Chef» oder «Euer Wille geschehe», lauteten die Slogans. In den aktuellen Auseinandersetzungen geht es, und darauf hebt Kickl ab, nicht nur um konkrete Probleme wie Zuwanderung, Energiepolitik, BĂŒrokratisierung oder Krieg und Frieden. Darum geht es auch. Aber darĂŒber hinaus geht es um viel GrundsĂ€tzlicheres, nĂ€mlich um die Frage, wer in unseren Staaten eigentlich bestimmt, wer die Gesetze macht. Sind das wir, oder sind das auswĂ€rtige Instanzen und Behörden, die sich unserer Institutionen, vieler Parteien und Politiker bedienen, allerdings so, dass wir uns den dabei resultierenden Entscheidungen immer ohnmĂ€chtiger ausgeliefert sehen?

Das ist die Frage, auf die Österreichs WĂ€hler mit Kickl eine ziemlich eindeutige Antwort gegeben haben. Sie fordern mehr Demokratie und weniger EU, mehr nationale Selbstbestimmung und weniger «supranationale» Fremdbestimmung. Sie holen sich die Kontrolle ĂŒber ihr Leben ein StĂŒck weit zurĂŒck, dorthin, wo sie hingehört: Auf den Boden des demokratischen, nationalen Rechtsstaats, in dem nicht die Politiker souverĂ€n sind, sondern die BĂŒrger.