Um 4.45 Uhr ist es natürlich noch dunkel, aber immerhin pfeifen schon die Vögel, was die für einen Journalisten ungewöhnlich frühe Tagwacht wenigstens mit einem heiteren Signal als Ausdruck von Lebensfreude vertont. Kurze Zeit später treffe ich am Kaffeeautomaten in der Logistikfiliale des Transportunternehmens Planzer in Dietikon Roland Wyss. Der erfahrene Chauffeur nimmt mich für einen Tag mit auf Achse und in eine bodenständige Welt, die in fast unsichtbarer Zuverlässigkeit die Grundlage für Wirtschaft und Wohlstand in der Schweiz bildet.

Während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 wurde manchem zum ersten Mal überhaupt bewusst, wie lebenswichtig ein funktionierendes Transportwesen für eine hochentwickelte (Industrie-)Gesellschaft ist. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse schrieb damals, «die Luftfahrt liegt am Boden, die Züge fahren leer, aber die Güter zirkulieren noch». Mittlerweile gibt es keine publizistischen La-Ola-Wellen mehr für Camions und Chauffeure, aber die Bedeutung einer hochleistungsfähigen Logistik ist geblieben.

Am Kaffeeautomaten im Depot Dietikon drücke ich auf die Tasse für Espresso, der langsam in einen Plastikbecher läuft. Roland Wyss erklärt währenddessen, was der erste Auftrag des Tages ist: «Wir müssen unbedingt vor sechs Uhr losfahren, damit wir am Gubrist nicht in den Stau kommen», sagt er. Eine grosser Aufleger voller Haushaltsgeräte muss zu einem Elektronikhändler nach Dübendorf gebracht werden – 21 Tonnen Waren kann der Volvo-LKW mit der internen Nummer 1.26 aufs Mal bewegen. Wir werden den Transportzug an diesem Tag mehrmals be- und wieder entladen.

Roland Wyss startet den mächtigen V6-Dieselmotor mit zwölf Litern Hubraum und 420 PS Leistung, der LKW setzt sich mit einem Ruck in Bewegung und rollt erstaunlich komfortabel vom Firmengelände. Dass ein Lastwagen eine mächtige Erscheinung ist, war mir klar, aber die Perspektive aus der Fahrerkabine verändert den Blick auf die Welt ziemlich dramatisch. Als ein Autofahrer von links ins Bild schiesst, der unbedingt noch vor unserem LKW die A1 erreichen will und dafür ein ziemlich riskantes Überholmanöver beim Einspuren vollzieht, gehe ich kurz im Geist meine eigenen Fahrsünden der letzten Tage durch. «Trotz aller Sicherheitssysteme hat so ein Lastzug sehr viele tote Winkel», erklärt Wyss.

Der Puls des 62-jährigen Chauffeurs, der seit rund dreissig Jahren für Planzer unterwegs ist, erhöht sich deshalb kein bisschen. Er kennt die bisweilen fragwürdigen Verhaltensweisen mancher Verkehrsteilnehmer und hat für sich selbst ein einfaches Prinzip: «Ich fahre 80 bis 85 km/h und überhole nie, das bringt ja nichts», sagt er mit der weisshaarigen Gelassenheit eines Mannes, der die Hälfte seines Lebens am Steuer meterhoch über dem Asphalt verbracht hat.

Auch über die vielen natürlichen menschlichen Unzulänglichkeiten, die einem im eng verzahnten, komplexen und zeitkritischen Logistikgeschäft begegnen, ärgert er sich nur noch milde. Chauffeur ist, jedenfalls ist das der Eindruck während dieses Tages, ein einsamer Beruf, bei dem man gleichzeitig von vielen Faktoren abhängig ist, die man kaum beeinflussen kann – von dem Disponenten in der Zentrale, dem unberechenbaren und fragilen Verkehr, den Launen der Kunden und einigem mehr.

Waschautomaten und Quarzsand

Das 1936 gegründete Familienunternehmen Planzer gehört zu den Grossen im Schweizer Transport- und Paketgeschäft: 5900 Mitarbeiter – davon sind 370 Lehrlinge – arbeiten an 68 Standorten im In- und Ausland, 1800 Fahrzeuge sind für den Dienstleister unterwegs, und Roland Wyss versichert glaubhaft, dass es sehr familiär zugehe. «In der Firma sind alle per du, sie lässt einen nicht im Stich, wenn es mal ein Problem gibt, und die Weihnachtsfeier ist jedes Jahr ein Ereignis», sagt er.

Während Richtung Stadt Zürich und Flughafen Autos, Liefer- und Lastwagen beginnen, zum üblichen Morgenstau zu verklumpen, biegen wir in der Gegenrichtung rechts ab nach Dübendorf und kommen noch im Dämmerlicht beim Bahnhof an. Wyss manövriert seinen Sattelschlepper zentimetergenau vor ein kleines Lager, und sofort beginnen die Entladungsarbeiten. Mit Hilfe dreier junger Mitarbeiter des Kunden werden die 68 Geschirrspüler, Waschautomaten und Tumbler von Miele entladen. Das ist harte, körperliche Arbeit, und die Ladevorgänge machen, wie sich im Lauf des Tages abzeichnet, mehr als die Hälfte der Arbeitszeit aus. Nach etwa dreissig Minuten ist der riesige Sattelaufleger leer, und wir setzen uns wieder in Bewegung.

Um 7.30 Uhr sind in Nänikon 23 Tonnen Quarzsand aufzuladen, auf dem Rückweg Richtumg Gubrist ist auf der eher zweckmässigen als idyllischen Raststätte Büsisee Zeit für Gipfeli, Schinkenbrot und Kaffee.

Arbeits-, Ruhe- und Fahrzeiten teilt sich ein Chauffeur selber ein, der Fahrtenschreiber speichert diese Daten, die Wochenarbeitszeit soll 48 Stunden nicht überschreiten. Der Quarzsand wird später beim Tiefbauunternehmen Walo in Schlieren entladen, auf dem Weg dorthin zeigt mir Roland Wyss «den idiotischsten Kreisel, den ich je gesehen habe». Das Erdnuss-förmige Verkehrshindernis ist für Auto- oder Zweiradfahrer möglicherweise eine unterhaltsame Abwechslung, in einem siebzehn Meter langen Lastzug ist es einfach nur ärgerlich, weil es kaum in einem Zug hinter sich zu bringen ist.

Wir passieren Fahrweid bei Weiningen, «hier bin ich geboren, aufgewachsen, und hier lebe ich heute noch», sagt Roland Wyss, und man muss das als Zeichen für eine in der Persönlichkeitsstruktur angelegte Fähigkeit zu Loyalität und Zuverlässigkeit verstehen. Eine Zeitlang habe er den Fisch- und Getränkehandel des Vaters weitergeführt, sich dann aber entschieden, ans Steuer zurückzukehren.

Der Quarzsand ist geliefert, nun geht es nach Spreitenbach, wo bei einer spezialisierten Firma Kabel auf teilweise mannshohen Rollen geladen werden müssen, Schwerstarbeit mit dem Palettenrolli auch dies. Wie Legosteine setzt Roland Wyss seine Ladung zentimetergenau zusammen, um möglichst viel Ware in den Sattelschlepper zu bekommen und gleichzeitig eine möglichst optimale, sicherheitsrelevante Lastenverteilung zu erreichen.

Stückgut in Regensdorf

Die Kabel haben das Zielland Saudi-Arabien, bevor sie aber bereit zum Verschiffen sind, müssen sie im ostschweizerischen Aathal in massgeschneiderte Holztransportkisten verpackt werden. Ein Tag im Leben eines Lastwagenchauffeurs ist gleichzeitig ein faszinierender Einblick in das vielbeschriebene, aber mehrheitlich unsichtbare Schweizer KMU-Universum, wo hochkompetente Spezialisten in ihren Disziplinen Spitzenleistungen erbringen, und sie alle sind gewissermassen durch das feinmaschige Netz der Schweizer Logistiker verbunden, das die Hauptschlagader des Wohlstands bildet.

Nachdem wieder einige Tonnen Material von A nach B mühelos und pünktlich verschoben wurden, halten wir auf dem Rückweg in einer Beiz bei Illnau-Effretikon für Hackbraten, Nüdeli und Broccoli, danach muss in einem der elf Hochregallager von Planzer in Regensdorf Stückgut abgeholt und in die Filiale in Dietikon verfrachtet werden. Von dort aus wiederum wird es am darauffolgenden Tag in die ganze Schweiz feinverteilt. Es ist eine Art Sammeltransport mit unterschiedlichsten Gütern – Dekomaterial, Motorenöl und andere Ware –, die an verschiedene Kunden geliefert werden müssen. «Das ist wie ein grosser Päckliservice», erklärt mir Roland Wyss. Es sei eine der anspruchsvolleren Arbeiten als Fahrer, sagt er, «da muesch seckle».

Um 16 Uhr sind wir zurück in der Dietiker Zentrale, wo Disponenten mit Headsets vor Bildschirmen sitzen, auf denen dank GPS jeder Lastwagen geortet werden kann. Künstliche Intelligenz sorgt für optimale Routen- und Abladeplanung im Stückgutgeschäft; und die schier unendlichen Möglichkeiten des vernetzten menschlichen Denkens wiederum dafür, dass Fahrer, Kunden und Güter möglichst reibungslos zusammenkommen.

Roland Wyss fährt noch ein letztes Mal los, um «vorzuladen», also die Ware für den nächsten Tag aufzunehmen, und es ist darauf Verlass, dass die Hauptschlagader der Schweiz zuverlässig weiterpulsiert.