Niemand sollte sich Sorgen um Serbien machen.
Wir stehen für Stabilität, Fortschritt
und den Schutz unserer Interessen.

Aleksandar Vucic

 

Advent, wir stellen unsere Seelen auf Empfang. Furchtlos freuen wir uns auf die Zukunft, die auch schon Schöneres versprach. Doch Weihnachten ist nah, und ich hoffe, Sie können die Hektik schon geniessen. Man muss sich kleine Oasen gönnen, vielleicht einen Spaziergang, eine Tramstation früher aussteigen, ein Buch lesen, oder eine Serie am Bildschirm. Mir ist bewusst, ich rede hier für privilegierte Minderheiten, trotzdem empfehle ich «The Old Man» auf Disney+ mit Jeff Bridges in der Hauptrolle eines alten, früheren CIA-Agenten, den seine blutige Vergangenheit einholt; Unterhaltung für Erwachsene von elegischer, existenzialistischer Kraft, mit dem Mut auch zur dosierten, produktiven Länge, die man sich zwischendurch auch einmal gefallen lässt.

Draussen in der Politik, im Bundeshaus, toben die Debatten ums Budget. Die Finanzen fehlen. Es geht auch um die Armee. Über dreissig Milliarden geben wir mittlerweile für die soziale Wohlfahrt aus. Rasch wachsend sind die Invalidenrenten, gegen vier Milliarden Franken jährlich, vor allem Junge seien betroffen, psychologisch-psychisch angeschlagen, krankgeschrieben. Vor zwanzig Jahren brachte die Weltwoche dazu eine Titelstory: «Ein Volk von Invaliden». Die SVP machte daraus den Slogan mit den «Scheininvaliden». Die Empörung war riesig, wie meistens, wenn die Partei instinktsicher eine unbequeme Wahrheit ausspricht. Heute erfährt die Invalidisierung unseres Landes wieder Schub. Die Milchkuh des Sozialstaats füttert die Findigen.

Entmonsterung ist gefragt, mehr Sachlichkeit und Nüchternheit, mehr Respekt für andere Völker.

Für die Weltwoche stand dieser Tage der Besuch des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic im Zentrum. Der Mann beeindruckt mich spätestens seit unserm Interview im letzten Sommer. Seine Worte wählt er mit Bedacht. Vucic wirkt nachdenklich. Er redet leise in einer Zeit, in der alle schreien. Während die andern die Fäuste ballen, streckt er die Hand zur freundlichen Begrüssung aus, ein Mann des Friedens, eher Intellektueller als Politiker, man könnte ihn sich als Professor an einer juristischen Fakultät vorstellen. Mir gefällt die geschichtsbewusste Gelassenheit, die Skepsis dieses Politikers, das, was ich als einen durch Lebenserfahrung geprägten Realismus empfinde.

Mit seinem Serbien steht er auf den explosiven Lavanarben und tektonischen Bruchlinien, an den Religionsfronten der europäischen Geschichte. Jahrhundertelang verteidigten die Serben in der südlichen Mitte des Kontinents das christliche Abendland heldenhaft gegen den Ansturm der Muslime. Wir haben es mit einem Volk von Überlebenden und Überlebenskünstlern zu tun, von Siegern und Geschlagenen, die niemals aufgeben und ihr Nationalgefühl aus der Not zum Widerstand gezogen haben. Zwischen Ost und West, balancierend über Schluchten und Abgründen, versucht der Präsident, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Alle zerren sie an ihm, doch irgendwie hält sich Vucic oben, schwindelerregend, bewundernswert.

Wieder leben wir in kriegerischen Zeiten. Der «kollektive Westen», dazu gehören Europa und leider auch die nicht mehr ganz neutrale Schweiz, redet sich ein, er stehe in einem zivilisatorischen Selbstverteidigungskrieg gegen die andrängenden Horden des Ostens mit Ihrem Putin an der Spitze, dem neuen Dschingis Khan. Die Legionen Moskaus wiederum sehen sich umgekehrt in einem Verteidigungskrieg gegen die gefrässig ostwärts marschierende Westallianz der Nato, hinter der die Amerikaner stehen, bis an die Zähne bewaffnet mit ihren Idealen, guten Absichten und dem Bewusstsein universeller Auserwähltheit, von Gott gesandt, um die Naturkräfte des Chaos zu bannen und die Barbaren an den Toren in Schach zu halten.

Wir haben es hier also mit zwei sich direkt widersprechenden «Narrativen» zu tun, mit einem Streit unter Tauben, die kaum mehr gewillt scheinen, dem jeweils anderen zuzuhören. Vielleicht kann man von Politikern wie Vucic lernen, was es heisst, an der Utopie der Verständigung festzuhalten, gerade dann, wenn die grossen Raubtiermächte im Krieg um ihre Reviere nur noch die Bomben sprechen lassen wollen. Vucic, so nehme ich ihn wahr, gehört zu den Brückenbauern, den ums Verstehen sich Bemühenden. Das mögen viele Kosovaren und Vucics Kritiker anders sehen, aber ich gebe hier meinem ehrlichen Eindruck aus mehreren Gesprächen Raum, Diskussionen auch mit Leuten, die den Präsidenten viel länger kennen als ich.

Wie weiter mit Russland, mit China, mit allen diesen sogenannten autoritären Staaten oder Autokratien oder Diktaturen, wie sie neuerdings heissen? Wenn ich sehe, wie heute die in den Medien tonangebenden Ostwest-Experten allwissend die Lage beschreiben, bin ich nicht so sicher, ob die von ihnen gewählten, geläufigen Kampfbegriffe wirklich zutreffen. Zum Beispiel Timothy Snyder. Der Historiker an der Elite-Universität Yale beschreibt Putin als Diktator übelster Prägung. Viele beten das nach. Der gleiche Snyder allerdings beschreibt auch den demokratisch gewählten US-Präsidenten Donald Trump ohne Anführungszeichen als «Faschisten». Ist das noch Wissenschaft? Oder schon Demagogie? Trump ist sicher kein Faschist. Was macht das aus Snyders Putin?

Ich würde davor warnen, einfach alles zu glauben, was – hüben wie drüben – propagandaschrill verbreitet wird. Gerade wir Schweizer sollten einen kühlen Kopf bewahren. Das ist keine Rechtfertigung Russlands und auch keine Verwerfung des «Westens». Aber ich bleibe überzeugt, dass wir auf diesem Planeten, dem einzigen, den wir haben, verdammt sind zur Zusammenarbeit, zum Freihandel, zur Beilegung oder wenigstens Einhegung von Kriegen und Konflikten, nicht zu deren Ausweitung. Wir sollten vermeiden, durch unser Reden und Handeln andere Völker und deren Regierungen aufzuwiegeln, dort Gefühle und politische Entwicklungen zu befeuern, die uns nicht gefallen können. Die Monster, denen wir uns gegenüber wähnen, haben wir oft auch mitgeschaffen.

Entmonsterung ist gefragt, mehr Sachlichkeit und Nüchternheit, mehr Respekt für andere Völker, Staaten und Kulturen. Die Bibel predigt die Feindesliebe. Damit könnten wir es doch auch einmal versuchen. Aleksandar Vucic ist ein interessanter, untypischer Politiker und Staatsmann, ein stiller Serbe in lauten Zeiten, der einen daran erinnert, was für eine reiche Vielfalt und faszinierende Kraft in Europas Kulturen nach wie vor steckt.