Ich bin baff. Meine Augenringe und Altersflecken sind weg, die Augenform ist optimiert, die Lippen wurden voluminöser. Damit wird jede Frau zur klassischen Schönheit, ähnelt ein bisschen Angelina Jolie. Wie verlockend! Wobei, genau genommen wird man eher zu Kim Kardashian – von allem etwas zu viel.

Verantwortlich für die neue Beauty-Welle unter jungen Damen ist der Tiktok-Filter «Bold Glamour». Derzeit herrscht ein regelrechter Hype um die Wirkung dieses KI-Filters, eine Kombination aus professionellem Make-up, Verjüngungspille und der «Mehr ist mehr»-Devise. Filter gibt es schon lange, dieser ist besonders, weil er auch bei Bewegungen nicht verrutscht, man also gar nicht mehr erkennt, dass hier ein schamloser It-Girl-Effekt am Werk ist. Ich habe «Bold Glamour» um 7.30 Uhr, mit morgendlich zerknitterter Augenpartie, ausprobiert. Er schafft es, sämtliche Spuren einer Frau, die etwas über die erste Frische hinaus ist, aus dem Gesicht wegzuzaubern. Jetzt fehlt mir nur noch der Wernli-Schwestern-Clan.

Tausende Tiktokerinnen veröffentlichen derzeit Videos, in denen sie sich mit und ohne den Filter zeigen. Katzenaugen, schmale Nase, Babyhaut. Entfernt man ihn wieder, kommt der Schock. Der erste Reflex ist ein erschüttertes «Igitt!», man gruselt sich fast vor sich selbst. Das führt auch zu Kritik an dem Produkt. Das Selbstbewusstsein vieler junger Menschen ist nicht gross genug, um mit optischen Imperfektionen durch die Social-Media-Welt zu tingeln – gleichzeitig wird ihnen von Influencern permanente Perfektion vorgegaukelt. Warum also nicht aufhübschen, wenn’s so einfach geht? Der Filter fördert nicht nur ein unrealistisches Schönheitsideal, sondern auch, dass man sich selbst als unattraktiv wahrnimmt. Das Problem ist, dass das Gehirn sich bei häufiger Nutzung an dieses neue Gesicht, das nicht mehr zur Realität passt, gewöhnt.

Das Problem ist, dass das Gehirn sich bei häufiger Nutzung an dieses neue Gesicht gewöhnt.

Tiktok kann man ab dreizehn Jahren nutzen. Die durchschnittliche Dreizehnjährige ist sich nicht bewusst, dass vieles nicht echt ist. Genauso wenig wie sie ahnt, dass das intensive Absorbieren ihres unrealistischen Abbildes irgendwann zu einer Art emotionalem Kontrollverlust führen und zur Keimzelle von Selbsthass und Unzufriedenheit werden kann. Viele junge Menschen verbringen ihren halben Tag auf diesen Social-Media-Plattformen. Jeden Tag.

China beispielsweise hat auf die hohe Nutzung reagiert, indem es ein landesweites Handyverbot an Grund- und Mittelschulen eingeführt hat. Damit will man der nachlassenden Sehfähigkeit unter Kindern entgegentreten, deren Konzentration verbessern und der Suchtgefahr vorbeugen. Auch dürfen Minderjährige nur noch drei Stunden pro Woche Online-Games spielen. In Frankreich müssen Influencer kennzeichnen, wenn sie Bilder im Rahmen von Werbung mit Filter bearbeiten.

Bei uns fordern manche Userinnen ein Verbot von «Bold Glamour». Verbote sind aber keine Lösung. Nur weil einige Social-Media-Nutzer nicht reif genug sind, mit den lauernden Gefahren von Filtern umzugehen, muss man sie nicht gleich allen wegnehmen. Ausserdem: Will man Beauty-Filter verbieten, müsste man auch Alkohol verbieten, mit dessen schädlichen Auswirkungen manche noch viel weniger umgehen können als mit Filtern – und schon finden wir uns im Prohibitionszeitalter wieder, in dem wir alle möglichen Dinge von Leuten fernhalten müssen.

Gewisse Einschränkungen sind wohl unumgänglich; das handhaben wir auch bei alkoholischen Getränken so, deren Verkauf an unter Sechzehnjährige nicht erlaubt ist. Und statt der Kennzeichnungspflicht von Filtern halte ich eine bessere Aufklärung für sinnvoller. Social-Media-Plattformen sollte man als das behandeln, was sie sind: potenzielle Gefahrenorte für psychische Störungen, vor allem für Jugendliche. Hier sind die Eltern gefragt. Sie stehen in der Verantwortung, den Kindern von klein auf Selbstbewusstsein mitzugeben, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und ihnen die Mechanismen der digitalen Welt näherzubringen, ein Bewusstsein für die dargestellte Scheinwirklichkeit zu schaffen.

Damit mein Gesicht bei der morgendlichen Videoaufnahme nicht aussieht wie etwas, das gerade mehrfaches Auswringen hinter sich hat, benütze ich leichtes Make-up und gutes Licht. Das erzeugt fast den gleichen Effekt wie ein Beauty-Filter – denn ganz ohne Eitelkeit geht’s natürlich auch nicht.