Es gibt dicke Menschen, die ihr Übergewicht nicht wesentlich durch Ernährung und Sport ändern können. Und es gibt solche, die von Natur aus schlank sind, weder hungern noch Diät machen und essen können, was sie wollen, ohne zuzunehmen. Schlank und mager ist nicht dasselbe: Während die Allgemeinwahrnehmung von «mager» eine knochige Statur beschreibt mit aussergewöhnlich dünnen Armen und Beinen, steht «schlank» in den Augen der meisten Betrachter für eine schmalgewachsene, aber wohlproportionierte Figur. Schlanke werden als «schlank» oder «dünn» bezeichnet, je nach persönlicher Wahrnehmung; der Unterschied des Erscheinungsbilds ist jedenfalls fliessend.

Ich bin so eine Person. Für meine 1,73 Meter bin ich recht schlank geraten, manche sagen dünn, kilomässig liege ich unter dem Idealgewicht. Die Begriffe «Knochengerüst», «magersüchtig» und «Klappergestell» haben mich ein Leben lang begleitet, und ich gönne den Menschen die Befriedigung, die sie durch diese Begrifflichkeiten erlangt haben. Es perlt an mir ab, wie andere meinen Körper beurteilen. Ich bin mit ihm zufrieden, fühle mich in ihm wohl, bin gesund. Die einzige Frage, die ich mir stelle: Warum ist fat shaming in der Gesellschaft (zu Recht) verpönt, aber bei skinny shaming (so heisst das bei den Dünnen) regt sich über weite Strecken kein Widerstand? Dabei kann man ja bei dem Thema nicht vorsichtig genug sein. Ein falsches Wort über Körperfülle bringt die Welt zum Einstürzen, und selbst der gesundheitliche Rat, Essensgewohnheiten umzustellen und mehr Sport zu treiben, gilt unter Umständen schon als Hassrede. Bei unvorteilhaften Begriffen, die sich gegen Dünne richten, kriegt aber keiner das Herzrasen. Dabei sind doch «Knochen» und «Nilpferd» im selben Topf.

Diese Schieflage beobachte ich immer wieder, neulich bei Twitter. Ein Meme geistert durchs Internet mit zwei Bildern aus Werbekampagnen von Calvin Klein. Das eine Bild ist von 2009 und zeigt ein schlankes Model im Bikini, sportliche, fitte Figur, definierte Bauchmuskeln. Auf dem anderen von 2019 ist eine stark übergewichtige Frau in Unterwäsche zu sehen. Das Meme soll offenbar das Anpassen von Calvin Klein an den Zeitgeist demonstrieren, zu dessen Überzeugungen die Body-Positivity-Botschaft «Jeder Körper ist schön, jeder Körper soll gefeiert werden» gehört, oder auch die durch die Jahre veränderten Ideale, was überhaupt «schön» ist. Vielleicht will der Konzern in seiner Werbung einfach nur die Realität abbilden.

Jedenfalls schrieb ein User dazu: «Massives Übergewicht führt unmittelbar zu Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen (wie Diabetes), Arthrose, Leber- und Nierenerkrankungen und Schlafproblemen. So etwas sollte durch Werbung nicht normalisiert und damit unterstützt werden.» Diesen Menschen helfe man mit solchen Werbeplakaten nicht. Das sei, als würde man für Gift werben, meinte er. «Diesen Menschen hilft man, indem man sie darin bestärkt und unterstützt, abzunehmen. Das ist die einzige Lösung.»

Sie können sich die Reaktionen vorstellen, allen voran den Vorwurf fat shaming. Dass der User gar nicht dicke Menschen kritisierte, sondern auf den möglichen Einfluss der Body Positivity und den Anstieg der Fettleibigkeit in der Bevölkerung anspielte – egal. Dabei schlug die WHO erst im Mai Alarm: In Europa leben fast zwei Drittel der Erwachsenen mit Übergewicht oder Fettleibigkeit, auch eines von drei Kindern. «Übergewicht und Adipositas haben epidemische Ausmasse erreicht», warnt sie.

Überraschenderweise kam aber auch das Bild des fitten Models unter Beschuss: Die Rede war von «Hungerhaken», «abgemagert» und «extrem dünn» – und niemand protestierte. Es zeige kein gesundes Körperschema, sondern eines, das ebenfalls «sehr schädlich» sei. So etwas sollte durch Werbung nicht normalisiert und unterstützt werden.

Keine Frage, indem sie erwachsene Models mit Körpern zwölfjähriger Jungs in der Werbung zeigt, fördert die Modeindustrie ein fragwürdiges Schönheitsideal. Und das zu kritisieren, ist richtig, bei Essstörungen kann das eine gewichtige Rolle spielen. Aber Werbung mit einer durchtrainierten, fitten Frau ist problematisch? Darauf ein Tiramisù mit extra Rahm! Vor lauter Betroffenheit über Ungerechtigkeiten ist so manchen der Sinn für Normalität abhandengekommen. Indem man von einem tiefen Gewicht oder BMI automatisch auf kränklich oder ungesund schliesst und sämtliche schlanken/dünnen Körper zum Synonym für schädliche Beeinflussung erklärt, löst man das Problem der Magersucht nicht, man stigmatisiert lediglich eine andere Gruppe.

Ein sicherer Weg, um im «Anti-Intoleranz»-Lager als Doppelmoralist aufzufliegen, ist der Drang, ständig mit dem Finger auf andere zu zeigen. Der lässt einen nämlich in geübter Regelmässigkeit die eigenen zweifelhaften Manöver übersehen. Wer Spott gegen Dicke verurteilt und gleichzeitig schlanke Körper als «Hungerhaken» bezeichnet, ist keinen Deut besser, würde ich meinen, als jene, die fat shaming betreiben.

Die 3 Top-Kommentare zu "Moralistische Manöver"
  • tina.abegg

    Solange die Hirnlosen Hochkonjunktur haben ist alles möglich.

  • Osi

    Man muss nicht immer alles schön reden. Fettleibigkeit kommt in der Regel vom zuviel und falsch essen. Punkt. Die Gesundheitskosten, die dadurch entstehen, können wir bald nicht mehr bezahlen. Eine gesunde Ernährung und Bewegung im richtigen Mass könnte diese Kosten massiv senken. Wer hat ein Interesse daran? Für die "Impfung" wird vom BAG gesetzeswidrig (Heilmittelgesetz) Werbung gemacht, was ist mit Aufklärung über Ernährung, Zusatzstoffe, etc.

  • gadsden_flag

    Werbung und Realität sollten sich eigentlich ausschliessen. Werbung zeigt idealisierte Bilder. So bildet die Calvin-Klein-Webung also nicht die Realität ab, sondern suggeriert, dass Übergewicht das anzustrebende Idealbild sei. Und das kann nicht im Sinn einer Gesellschaft sein. Andererseits ist es genau diese Gesellschaft, die immer mehr Ansprüche an den [paternalistischen] Staat stellt, der dieser Bitte nur zu gern nachkommt und noch mehr Vorschriften zu Ernährungsempfehlungen erlässt.