Die Staaten der Europäischen Union rüsten auf. Das ist richtig. Zu lange hat man die Verteidigung vernachlässigt, auch in der Schweiz. Der Einmarsch der Russen in die Ukraine hat auch deshalb einen Schock ausgelöst, weil er den Europäern bewusst machte, wie nackt sie militärisch dastehen. Deshalb reagierten sie so emotional und kopflos auf die russische Invasion. Schwäche produziert keine vernünftige Politik. Putin brachte die Einsicht in die Notwendigkeit verteidigungsfähiger Streitkräfte zurück.

Die Auf- oder Nachrüstung EU-Europas und der Schweiz ist überfällig. Falsch aber ist das Motiv, mit dem sie jetzt vorangetrieben wird. Die gewaltigen Investitionen sollen dazu dienen, einen angeblich unmittelbar bevorstehenden Angriff Russlands auf weitere europäische Länder zu verhindern. Zahlreiche Experten, vor allem Deutsche, behaupten, als ob sie eine Standleitung in Putins Hirn besässen, der Kreml-Herrscher werde 2028, spätestens 2030 seinen «imperialen Eroberungskrieg» fortsetzen.

Das Problem solcher Szenarien besteht darin, dass sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden können. In der Politik hat das eigene Verhalten einen Einfluss darauf, wie sich der andere verhält. Indem man jetzt wie verrückt gegen Russland aufrüstet, verschärft man dort das Gefühl der Bedrohung, was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts erhöht, die man doch eigentlich verringern will.

Ein zweiter Widerspruch: Die gleichen Experten, die einen russischen Angriff fast bis auf den Tag genau glauben voraussagen zu können, sind oft auch der Meinung, der Ukraine-Krieg zeige, wie schwach und wirkungslos die russischen Streitkräfte seien. Auf der einen Seite also hat man Angst vor einer Invasion. Auf der anderen Seite mokiert man sich über die angebliche Unfähigkeit des Gegners. Europas Strategie resultiert aus der Gleichzeitigkeit dieser zwei sich ausschliessenden Gedanken.

Aber wie realistisch ist ein russischer Angriff auf Europa denn überhaupt, in den nächsten Jahren oder später? Die Antwort hängt entscheidend davon ab, wie man den Ukraine-Krieg einordnet. Vor der russischen Invasion war eine russische Operation gegen Europa absolut kein Thema. Nach dem Einmarsch hat sich in Lichtgeschwindigkeit die Behauptung dogmatisch festgesetzt, Putin plane die Wiedereroberung der einstigen sowjetischen Einflusszone, Ostblock reloaded.

Theoretisch ist nichts auszuschliessen. Wir wissen nicht, was in Putins Kopf vorgeht, das aber wissen auch die nicht, die es genau zu wissen vorgeben. Vermutlich geht man nicht fehl in der Annahme, Putin hege irgendwo tief drinnen die Sehnsucht, den Zusammenbruch der Sowjetunion, für ihn die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, wieder rückgängig zu machen. Hätte er die Möglichkeit dazu, die Macht, würde er das wohl versuchen. Das auszuschliessen, wäre naiv.

Daraus allerdings abzuleiten, dies sei tatsächlich sein Ziel und der Ukraine-Krieg der erste Schritt, ist alles andere als logisch. Auch blendet man so die eigentlichen Kriegsursachen in der Ukraine aus. Die Russen, argumentieren etwa die amerikanischen Professoren Jeffrey Sachs und John Mearsheimer, führen keinen Eroberungskrieg, sondern einen Abwehrkrieg gegen das Vordringen der amerikanischen Militärallianz Nato bis an die unmittelbaren russischen Grenzen.

Grossmächte haben Einfluss- und Sicherheitssphären. Das gilt für die Amerikaner genauso wie für die Russen. Die Ukraine ist zudem ein ganz spezieller Fall. Die Gebiete im Osten waren jahrhundertelang Bestandteil Russlands, die Kultur dort ist russisch, auch die Krim, während die Westukraine unter österreichischem, litauischem, polnischem und schwedischem Einfluss stand. Kiew wiederum wird von den Russen als Wiege ihrer Kultur und ihres Staats betrachtet. Das gilt es zu berücksichtigen.

Die Amerikaner wussten, dass eine Ausdehnung ihrer Nato nach Osten Konflikte bringen wird. Davor warnten US-Diplomaten wie George Kennan oder William Burns, der spätere CIA-Direktor. Trotzdem rückte die Nato immer weiter vor. Die USA unterstützten einen Staatsstreich in der Ukraine, es kam zu Widerstand im Osten, dann zum Bürgerkrieg. Seit 2015 ist die autoritär regierte Ukraine faktisch Nato-Mitglied. Von den Russen zu erwarten, dass sie all dies klaglos schlucken, war ein schwerer Fehler.

Wiederholt betont Putin, er sei kein Feind Europas. Auch gedenke er nicht, weitere Staaten anzugreifen. Darf man ihn beim Wort nehmen? Immerhin willigte er im April 2022 ein, kurz nach dem Einmarsch, mit Selenskyj einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, der für die Ukraine vorteilhafter ausgefallen wäre als das, was ihr jetzt bevorsteht. Viel spricht dafür, den Russen zu glauben, wenn sie sagen, sie würden eine neutrale Ukraine ohne Nato akzeptieren, unter Berücksichtigung der militärischen Lage.

Putin will Europa nicht erobern. Warum sollte er das tun? Land haben die Russen genug. Es geht ihnen um die Sicherheit. Und es liegt nicht im russischen Interesse, dauerhaft mit dem Westen Krieg zu führen. Putin kennt die Geschichte. Er ist gewiss ein machtbewusster, machiavellistischer Politiker, aber er ist nicht wahnsinnig. Ein Angriff auf die Nato würde ihn unweigerlich in direkten Konflikt, in einen möglichen Atomkrieg mit den Vereinigten Staaten verwickeln. Warum sollte er das tun? Es wäre verrückt.

Die Amerikaner haben das verstanden. Darum sitzen sie jetzt mit den Russen am Verhandlungstisch. Die Europäer weigern sich noch, auf einen Frieden einzusteigen. Ihre Eliten haben immenses politisches und finanzielles Kapital in diesen Krieg investiert, verbunden mit einer massiven Propaganda der Angstmacherei und Russenfeindlichkeit. Ihre Strategie aber ist gescheitert. Die Unterstützung der Ukraine war richtig, aber der Waffendogmatismus, der Verzicht auf jegliche Diplomatie, war falsch.

Wie lange werden sich die EU-Eliten gegen die Wirklichkeit aufbäumen? Wie lange noch folgen sie den apokalyptischen Vorstellungen Selenskyjs, dieses falschen Heiligen, der die EU und die USA in einen grossen Krieg gegen Russland reissen will? Solange die notwendige Nachrüstung von irrigen Annahmen ausgeht, kann aus ihr nichts Gutes entstehen. Aber zum Glück ist die EU zu schwach für eine Konfrontationspolitik an mehreren Fronten. Ob die heute regierenden Politiker zu dieser Einsicht bereit sind, ist freilich zu bezweifeln.