Am 8. Januar 1947 fegte ein eisiger Sturm vom Welschland her durch Rüti bei Büren. Er warf die einzige sanitäre Anlage des Dorfes um, riss Eiszapfen mit sich, die sich wie Bajonette in die hölzerne Kirchtür bohrten, und brachte eine so gewaltige Kälte, dass die Kühe in den Ställen erfrorene Kälber gebaren, heisst es. Auch sollen mittags drei Kolkraben auf dem Dach des Gasthofs Bären einen gespenstischen Tanz vollführt haben. Kein Rütiger, dem seine Seele lieb war, verliess an diesem Tag das Haus, nur die Hebamme Klara Zenger kämpfte sich durch den Teufelssturm zum Lehrerhaus, um einem, wie sich zeigte, Knaben auf die Welt zu helfen, dessen Oberlippe von auffällig dichtem Flaum geziert wurde. Beim Schreien machte das Knäblein kaum den Mund auf, so dass der Pfarrer es auf den strengen Namen Samuel Schmid taufte. Aber wenn der Pfarrer es nicht hörte, wurde das Baby vertraulich dr Sämu genannt.

Heute erinnert in Rüti bei Büren nichts mehr an den ehemaligen Lehrersbuben, der von hier aus seinen Siegeszug ins benachbarte Bern antrat. Vergeblich hält der Besucher Ausschau nach einem Wegweiser Besucherparkplatz Einfamilienhaus Sämu. Im Gasthof Bären, der sich vom Kolkrabentanz des Jahres 1947 erholt zu haben scheint, serviert die Wirtin den Chauffeuren der Firma Thommen Piccata Napoli. Fragt man die Wirtin, weshalb es zum Dessert keinen Coupe de Sämu gebe, ruft sie: «Das fehlte gerade noch!» Es ist, als schämten sich die Rütiger dafür, dass einer aus ihrem Dorf in der Schweizer Illustrierten Sätze sagt wie: «Macht ist etwas Faszinierendes.»

In Rüti ist sogar das Benzin bescheiden. An der einzigen Tankstelle wird nicht das mehrbessere Shell verkauft oder das berühmte Esso, sondern das ausserhalb von Rüti unbekannte, aber rechtschaffene Vollan. Auch wird in der W. und D. Schenk Maschinenschaberei geräuschlos geschabt: Man hat es nicht nötig, durch Lärm auf sich aufmerksam zu machen. Dem Besitzer der Bäckerei Kuchen Konditorei wäre es nie in den Sinn gekommen, im Schriftzug seines Geschäfts reisserisch auf seine Kuchen hinzuweisen. Sondern «Kuchen» steht dort, weil er P. Kuchen heisst.

In den langen, monotonen Primarschuljahren wuchs im schweigsamen Samuel der Wunsch, Pilot zu werden. «Er war ein stiller Schüler», sagt ein ehemaliger Lehrer, «aber manchmal machte er Brummgeräusche. Später, als die Propellermaschinen durch Düsenflugzeuge ersetzt wurden, machte er Zischgeräusche.» Einmal an einem Sonntag, als Familie Schmid wie immer via Bibern–Mühledorf nach Gossliwil spazierte, breitete der kleine Sämu plötzlich die Arme aus. Sein älterer Bruder Peter: «Wir dachten alle, ja spinnt der, dass der ohne Grund die Arme ausbreitet! Wir wussten ja nicht, dass er Pilot werden wollte.» Die Nachricht, dass dr Sämu auf einem Familienspaziergang seine Arme ausgebreitet hatte, löste in Rüti Kopfschütteln, bei manchem aber auch ein nachsichtiges Lächeln aus. Der damalige Pfarrer Eberhard nahm den Vorfall zum Anlass, um in einer Predigt davor zu warnen, «Menschen und auch Kinder», wie er sagte, «aus der Gemeinschaft zu verstossen, nur weil sie etwas scheinbar Verrücktes machen. Also zum Beispiel so tun, als seien sie ein Flugzeug.» Trotz dieser Predigt, sagt eine Schulkameradin, sei Sämu auf dem Schulplatz richtiggehend fertig gemacht worden. «Geh doch nach Bern», habe man ihm nachgerufen, «dort spinnen alle!» Die Schulkameradin mutmasst: «Durch diese Hänseleien wurde das ihm unbekannte Bern für Sämu möglicherweise zu einem magischen Ort, an dem man jederzeit und ungestraft die Arme ausbreiten und Zischgeräusche machen konnte.»

Was auch immer in Rüti geschehen sein mag: Heute macht das Dorf auf den Besucher den Eindruck einer Ortschaft mit Mehrzweckhalle, auf deren Dach eine sehenswerte Sirene thront. Sie wird die hier ansässigen 919 Schweizer und 28 illegalen Ausländer vor einem Angriff mit atomaren Sprengkörpern und/oder chemischen Kampfstoffen warnen. Die fast sechs Meter hohe Sirene kann ganzjährig besichtigt werden. Wer sich mittwochs um zwölf Uhr einfindet und Glück hat, kommt in den Genuss eines Probealarms. Es besteht die Möglichkeit, sich nach der Besichtigung im Damen-Herren-Salon Anita eine Souvenirfrisur schneiden zu lassen.

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Zeichnung: www.grrr.net