Ferdinand von Schirach: Sie sagt. Er sagt. btb. 144 S., Fr. 19.90

Ferdinand von Schirach: Sie sagt. Mit Ina Weisse, Godehard Giese, Johanna Gastdorf, Matthias Brandt. ZDF. In der Mediathek abrufbar

Ein Landgericht tagt. Die Nebenklägerin wirft ihrem früheren Geliebten sexuellen Übergriff vor. Einmal mehr also geht es um Strafrecht; von Schirach bleibt bei seinem Leisten. Und man kann ihm auch nicht vorwerfen, zu entlegenen Stoffen zu greifen. Vergewaltigungsprozesse ziehen, besser als solche um die Vernachlässigung von Unterhaltspflichten oder den Missbrauch einer Fernmeldeanlage. Das Stück spricht selbst die Fälle Horst Arnold, einen deutschen Justizirrtum, Jörg Kachelmann und die Soap-Opera um Amber Heard und Johnny Depp an. Die Biografien der Nebenklägerin und des Angeklagten haben Ähnlichkeiten mit dem Fall Kachelmann.

Wer immer hier auch lügt, tut es auf dem Feld der direkten Unüberprüfbarkeit.Der Autor gibt sich Mühe, Wirklichkeit zu simulieren und vergessen zu lassen, dass es sich um Theater handelt. Entgegen kommt ihm, dass schon die Wirklichkeit Theater ist: Das Stück bedient sich der genuinen Theatralität des Strafprozesses. Dabei geht es nicht um Wahrheit, sondern darum, ob das, was das Gericht herausfindet, den Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt.

 

Systematisch in die Irre geführt

Aus dem Off erklärt am Anfang eine Stimme, es sei über das Schicksal des Angeklagten und das Schicksal des Opfers zu entscheiden. «Als Richter müssen Sie urteilen.» Das Gericht kann hier nicht angesprochen sein, denn weshalb sollten die Richter über ihre Pflichten belehrt werden? Also muss es das Publikum sein, das in die Richterfunktion gehoben werden soll. Von Schirach scheut das Triviale nicht.

«Sie sagt. Er sagt.» könnte auch heissen: «Sie lügt. Oder er.» Weit hinten im Stück meint die Verteidigerin: «Eine gute Lüge unterscheidet sich von einer schlechten dadurch, dass der gute Lügner nur möglichst wenig erfindet.» Das weiss man in der Lügenforschung schon lange. In der Tat weichen die Sachverhaltsdarstellungen der beiden Protagonisten nur wenig voneinander ab – und natürlich in den entscheidenden Einzelheiten, von denen keine Dritten wissen können. Wer immer hier auch lügt, tut es auf dem Feld der direkten Unüberprüfbarkeit. So muss der Beweis indirekt geführt werden, muss es zum Indizienprozess kommen. Wie jeder Krimiautor führt von Schirach das Publikum systematisch in die Irre. Das erwartbare Unerwartete, es wird unvermeidlich Ereignis. Mit jedem Beweis, der auftaucht, glaubt man, nun sei der Sachverhalt erstellt und der Prozess spruchreif. Doch ach, es naht der nächste Beweis und kehrt die Lage. So lässt der Autor einen berlinernden Taxifahrer ex Machina mit Überwachungskamera auftauchen, der die Nebenklägerin nach der behaupteten Tat gefahren hat. Der Film dieser Fahrt ist mit Zeitstempel erhalten, so dass sich zu ergeben scheint, wie die Nebenklägerin an diesem Tag gewandet war. Keiner Lösung zu führt der Autor dabei die von der Verteidigung aufgeworfene Frage, weshalb sie bei über 30 Grad einen Mantel getragen hat.

Und so werden die verschiedenen Beweismittel durchdekliniert: Sachverständige (rechtsmedizinische Aussagen, Zuordnung von Spermaspuren), Geständnis, Urkunden, Filmaufzeichnung, Zeugenbefragung, Parteivernehmung. Dem Publikum wird auch der Unterschied zwischen Beweismitteln und ihrer Würdigung vor Augen geführt. Strafprozessrecht für Erstsemester. Das Thema ist ernst, und von Schirach behandelt es mit schwerem Realismus. Entschlossen zieht er das Oberlehrerhafte dem Kunstvollen vor. Alle Figuren äussern Rollengerechtes. Alles wird so gesagt, dass jeder Laie begreift, was zu begreifen ihm dieses witzfreie Lehrstück vorgibt.

Daneben ist das Stück auch ein postbürgerliches Trauerspiel. Der Amour fou von zwei verheirateten, beruflich erfolgreichen Menschen hinterlässt Verheerung: beide in Scheidung, Verlust der Familie, berufliches Desaster. Und auch die Gesellschaft hat schon entschieden. Der späte Spruch der Justiz wird daran nicht mehr viel ändern; das Tribunal der Öffentlichkeit duldet keine zweite Instanz.

Sie sagt. Er sagt. Ja, aber was sagt zuletzt das Gericht? Es muss doch urteilen, oder?

Noch nicht erschienen, wurde das Stück vom ZDF bereits verfilmt, wie der Klappentext berichtet, «mit grossem Staraufgebot» und, wie anzufügen ist, mit texttreuer Langweiligkeit, und lange wird es auch nicht warten müssen, bis es sich in der Bestsellerliste wiederfindet.