Simon Shuster: Vor den Augen der Welt – Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine. Goldmann. 528 S., Fr. 36.90

Dieses Buch ist wie ein Eisbrecher, wie ein Flugzeugträger, wie ein Hilfspaket für die Ukraine: Unaufhaltsam schiebt es sich voran, verdrängt und überschattet alles andere. Gemeint ist nicht die schriftstellerische Qualität, sondern die Leistung des Verlags. Weltweit simultan wurde das Werk veröffentlicht, in mehr als einem halben Dutzend Sprachen. Das ist die Behandlung, die einem John Grisham oder einer J. K. Rowling zuteilwird.

Oder Wolodymyr Selenskyj. Um ihn geht es in der Biografie, die Simon Shuster geschrieben hat, der amerikanische Korrespondent des Magazins Time. Um Selenskyj und um seinen Krieg, der nun schon in das dritte Jahr geht. Kurz nach Kriegsausbruch waren mehrere Biografien des ukrainischen Präsidenten auf den Markt geworfen worden. Wie Konfetti rieselten sie auf das begierige Publikum herab. Wohlfeile Schnellschüsse: Aufklärung oder gar Einsichten in die Person Selenskyjs oder in seinen Charakter boten sie nicht. Wie in dem Genre leider üblich, schrieben alle von denselben dürftigen Originalquellen ab.

Shusters Werk sollte all dies richtigstellen. Schliesslich kam nicht einmal der eilfertige Bild-Mann Paul Ronzheimer dem Staatschef so oft so nahe wie der Amerikaner. Monatelang campierte er gleichsam vor Selenskyjs Bürotür, immer wieder begleitete er ihn auf Reisen – sei es an die Front oder nach Washington. Und ein besonders enges Verhältnis baute er zur First Lady Olena Selenska auf, die eine seiner wichtigsten Quellen ist. Wenig überraschend erklärte das Wall Street Journal das Buch denn auch zum Goldstandard, an dem sich alle künftigen Versuche messen lassen müssten, die historische Grossfigur Selenskyj auszuloten.

Als Präsident sieht er es als seine wichtigste Aufgabe, das Publikum bei der Stange zu halten.

Prädestiniert wäre Shuster: Als Sohn eines ukrainischen Vaters und einer russischen Mutter spricht er muttersprachlich Russisch. Geboren in Moskau, kam er als Kind 1989 nach Kalifornien. Seit 2009, fast sein gesamtes Berufsleben, berichtet er aus und über die Ukraine und Russland. Dies und der bevorzugte Zugang zum Objekt seines Buches sollten mithin die hohen Erwartungen erfüllen, wenn nicht gar übertreffen.

 

Zweifel im Epilog

Doch Shuster scheint selbst sehr schnell gemerkt zu haben, dass alles Antichambrieren und die Interviews mit Selenskyj nicht viel zur Erhellung dessen Person beitragen. Da ist zwar der Wandel vom Komiker zum Staatsmann, aber letztlich scheint es doch kein wirklicher Wandel zu sein. Denn auch als Präsident sieht er es als seine wichtigste Aufgabe, das Publikum bei der Stange zu halten. Nur dass es sich nicht mehr um Zuschauer in einem Klub oder vor dem Bildschirm handelt, sondern um die internationale Gemeinschaft. Doch das Interesse an der Show schwindet.

Shuster verwebt die Vita also mit Reportageelementen der Kriegsmonate und der Vorkriegszeit. Doch der Leser erfährt nichts anderes, als was er schon in den Berichten der angelsächsischen Mainstream-Medien erfuhr. Es ist die übliche Heldengeschichte des tapferen ukrainischen Volkes und seines heroischen Anführers im Angesicht bestialischer slawischer Horden aus dem Osten.

Entscheidende Informationen fallen unter den Tisch. Dass Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz wenige Tage vor dem russischen Einmarsch Atomwaffen für sein Land forderte – kommt nicht vor. Wenn Selenskyj den Oppositionsführer verhaften und zehn Oppositionsparteien verbieten lässt, dann «dünnt» er die Opposition aus. Das bereits paraphierte Friedensabkommen von Istanbul kommt zwar vor, doch wer es warum torpedierte, erfährt man nicht. Nur im Epilog kommen Shuster Zweifel, ob sein Held der richtige Mann für die Nachkriegs-Ukraine ist. Warum das so ist, enthüllt er freilich nicht.

Die grösste Schwäche des Buches liegt darin, dass die Erzählung im November 2022 endet. Ein Jahr hat Shuster für die Niederschrift gebraucht, ein Jahr, in dem sich das Kriegsglück für die Ukraine ebenso gewendet hat wie die einst blinde Verherrlichung Selenskyjs im Westen. Im nächsten Jahr kann sich alles schon wieder verändert haben, und deshalb ist die vermeintlich endgültige Biografie auch nichts anderes als ein Schnellschuss.