Christlich glauben bedeutet ja sich anvertrauen
dem Sinn, der mich und die Welt trägt;
ihn als den festen Grund nehmen,
auf dem ich furchtlos stehen kann.

Joseph Ratzinger

 

Seit neunzig Jahren befasst sich die Weltwoche mit dem Weltgeschehen. Gegründet von zwei NZZ-Journalisten auf einer Zugfahrt durch Frankreich, konzentriert sich das Wochenblatt auf sogenannt unkonventionellen Journalismus. Damit ist gemeint, dass die Weltwoche keiner politischen Linie, keinem Dogma oder redaktionellen Konsens folgt, sondern ihren Autoren die Freiheit gibt, das zu sagen, was sie sagen wollen, präziser: was sie sagen müssen.

Mit diesem Ansatz fiel die Zeitung immer schon zwischen alle Kategorien und Schubladen. Den einen war sie zu links, den anderen zu rechts. In einem Konzeptpapier von 1994 heisst es, die Weltwoche halte Abstand zu Moden und zum Zeitgeist. Man richte sich nicht an einen statistisch durch die Marktforschung ermittelten «supponierten Allgemeinleser». Dafür versuche man, stets aufs Neue, darüber zu schreiben, was die Leute hoffentlich interessiert.

Nichts von diesem Selbstverständnis hat an Aktualität verloren. Die Idee, dass die Journalisten den Lesern eine bestimmte Weltsicht eintrichtern oder sie beim Denken betreuen sollten, ist abwegig. Aber leider eine heute allzu gängige Praxis. Der moralisierende Belehrungston, frei von Humor und Selbstzweifeln, ist zum Grundakkord vieler Berichterstattungen geworden. Manche erleben die Nachrichten inzwischen als eine Art Brechmittel, dessen Zufuhr sie verständlicherweise verweigern.

Die Weltwoche hat den Auftrag, Gegensteuer zu geben. Dafür wird sie immer wieder kritisiert. Hoffentlich auch. Die Mehrheit mag den Widerspruch nicht so sehr, doch der Kontrapunkt ist wichtig in der Demokratie. Wenn alle in die gleiche Richtung rennen, wird es gefährlich. Einseitige Debatten produzieren einseitige Entscheidungen. Es ist ein Alarmzeichen, dass während der Corona-Pandemie auch in der Schweiz sich viele nicht mehr trauten, ihre Meinung zu sagen.

Wir haben das Christentum beerdigt. Deshalb rennen wir, atemlos, immer neuen Ersatzgöttern hinterher.

Hat sich die Lage seither einschneidend verbessert? Eher im Gegenteil. Beim Thema Ukraine verklumpten sich die Medien zum Gesinnungsblock, zur stachligen Phalanx, zusammen mit der Politik. Die Einfalt war unerträglich, und jeder, der auch nur den Hauch eines Zweifels an den verbreiteten Wahrheiten anmeldete, sah sich zum Handlanger des Bösen abgestempelt. Immer wieder musste die Weltwoche als Pflichtverteidiger ran. Aber warum eigentlich nur sie?

Journalisten verfehlen ihren Job, wenn sie zu Souffleuren der Mehrheit, zu Nachbetern der Mächtigen werden. Je länger ich darüber nachdenke, desto dringlicher scheint mir das bewährte Weltwoche-Postulat nach Vielfalt zu sein. Es gibt immer eine andere Sicht, und anstatt sich dem, was uns zunächst fremd erscheint, mit einer roboterhaften Arroganz zuzuwenden, sollte die gute alte Tugend der Neugier, des Verstehenwollens zum Zug kommen – und die Lust am Widerspruch.

Eigentlich steht schon alles in der Bibel. Es ist billig, den Fehler immer bei den anderen, niemals bei sich selber aufzudecken. Bevor wir uns über den Splitter im Auge eines anderen empören, sollten wir uns mit dem Balken befassen, der unseren eigenen Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Journalisten sind mutig, wenn sie sich den Despoten eines möglichst fernen Auslands entgegenstellen. Viel zu brav und zu konformistisch aber sind sie im Umgang mit dem heimischen Despotismus der Mehrheiten.

Und noch etwas kommt zu kurz: Ermutigung. Unsere Zeit versinkt im Negativen, im Weltschmerz, im Gejammer. Bis vor kurzem wurden die Grünen hochgejubelt. Jetzt stampft man sie ebenso primitiv und voller Häme in den Abgrund. Den armen ukrainischen Präsidenten Selenskyj pushten sie zum neuen Schutzheiligen des Westens hoch. Jetzt lässt man den früheren Schauspieler, den die Lobeshymnen übermütig machen mussten, wie eine faulige Kartoffel fallen. So zynisch.

Nein, auch Journalisten können die Welt nicht retten. Aber sie können wenigstens versuchen, die seit Ewigkeiten hochbrandenden Wogen des Wahnsinns etwas zu glätten. Ich hoffe, es wird der Weltwoche auch im nächsten Jahr gelingen, ihrem Credo nachzuleben, man möge sich nach dem Lesen besser fühlen als vorher – und erst noch informiert. Wo alle kritisieren, muss man loben. Wo hingegen alle loben, darf man kritisieren. Und das Wahre ist immer das Ganze.

Zum Ende dieses Jahres darf ich Ihnen allen danke sagen, unseren Lesern, unseren Kunden, all meinen hochgeschätzten Mitarbeitern, die hoffentlich auch in Zukunft den Grundauftrag der Zeitung nicht mit dem verwechseln, was der Chefredaktor jeweils sagt und denkt. Journalismus ist das Privileg, sich mit immer neuen interessanten Fragen zu befassen. Und das macht unsere Zeitung wohl wirklich einzigartig: die Freiheit, die sie ihren Autoren gibt, ihre Argumente auszubreiten.

Die Weltwoche ist der stete Versuch, sich von allem freizuschreiben, alles zu hinterfragen, nichts zu glauben ausser an die segensreiche Kraft des Gesprächs, Rede und Gegenrede. Das, so will mir scheinen, ist auch die Grundlage unserer Schweiz, die in vielem genauso unkonventionell und gegenläufig, erfreulich widerstrebend sein kann wie die Weltwoche, dieses urschweizerische Traditionsprodukt, das nur in einer Schweiz gedeihen kann, der immer noch bestorganisierten Anarchie des Abendlandes.

Womit wir beim letzten Stichwort wären: Unsere Welt hat keinen Boden mehr. Wir haben das Christentum beerdigt. Deshalb rennen wir, atemlos, immer neuen Ersatzgöttern hinterher. Wo sind unsere Wurzeln? Diesem Thema werden wir nachgehen. Vielfalt und Ermutigung: Das habe ich mir vorgenommen für das kommende Jahr. Und nun, liebe Leser, wünsche ich Ihnen von Herzen und in grosser Dankbarkeit schöne Weihnachten, alles Gute und viel Zuversicht in arglistiger Zeit!

 

«Mensch, Du bist nicht allein»: Gespräch mit dem Philosophen Helmut Holzhey: S. 84