Der Drang, die Menschheit zu retten, ist fast immer eine falsche Fassade fĂŒr den Drang zu herrschen.

Henry L. Mencken (1880–1956)

Es gibt zwei Arten von Menschen: die Wahrheitsbesitzer und die Wahrheitssucher, die Bescheidwisser und die Zweifler. Die Wahrheitsbesitzer sind gefĂ€hrlich. Sie glauben an die eigene Unfehlbarkeit. Sie halten jeden, der widerspricht, fĂŒr dumm oder fĂŒr böse. Meistens fĂŒr beides. Wahrheitsbesitzer sind der Untergang jeder Kultur, jeder Zivilisation. Wenn die Wahrheitsbesitzer das Kommando ĂŒbernehmen, drohen die Tyrannei, die Zerstörung der Werte. Wahrheitsbesitzer sind LĂŒgner, weil der Mensch irrt, seinen Einbildungen erliegt, die Wahrheit niemals besitzen kann.

Wahrheitsbesitzer sind die grösste Plage der Menschheit. Nie sterben sie aus, immer kommen sie wieder. Sie bedienten die Folterwerkzeuge der Inquisition, schichteten Scheiterhaufen auf, verbrannten Ketzer und Hexen, bauten Gulags und Konzentrationslager. Immer auf der Lauer, warten sie darauf, ihr Regime aufzuziehen. Stets geben sie sich als VerbĂŒndete des Guten aus, als GralshĂŒter des Göttlichen, dessen, was uns das Höchste ist. Doch die Wahrheitsbesitzer sind nicht die Guten, sie sind die Bösen, weil sie das Gute nur missbrauchen, um zu herrschen.

Wahrheitsbesitzer wollen keine Probleme lösen, sie wollen die Menschheit retten, den Planeten, das Klima. Wahrheitsbesitzer gehen aufs Ganze. Sie sind verliebt in Abstraktionen. Ihr Lieblingswort heisst «Menschheit». FĂŒr den einzelnen Menschen haben sie nichts ĂŒbrig, er muss betreut, beherrscht, kontrolliert, am freien Reden und Denken gehindert, zum Guten geprĂŒgelt werden. Nichts trauen die Wahrheitsbesitzer dem Einzelnen zu, sich selber und der Menschheit aber alles. Was sich ihrer Herrschaft widersetzt, bekĂ€mpfen sie.

Wahrheitsbesitzer stellen Moral ĂŒber Recht, Wahrheit ĂŒber Mehrheit, das Dogma ĂŒber die Demokratie. Sie sind nicht bereit, die freie Entscheidung der WĂ€hler zu akzeptieren. Wahrheitsbesitzer brauchen Feinde, Teufel, ihr Instrument ist die Angst, ihre Methode die EinschĂŒchterung. Sie sind nicht bereit, GesprĂ€che zu fĂŒhren, Argumente zu prĂŒfen und zu widerlegen. Sie unterbinden, verbieten, unterdrĂŒcken, «canceln». Sie behaupten, es dĂŒrfe nur noch eine Meinung geben, ihre eigene. «Alternativlos» nennen sie ihre Sicht.

Keine anderen Götter dulden sie neben sich. Sie haben Gott fĂŒr tot erklĂ€rt, um sich auf seinen Thron zu setzen.

Die Tyrannei der Wahrheitsbesitzer kommt auf Engelszungen, sich selber verleugnend, die Leute umsĂ€uselnd, schmeichelnd, blendend. Die Despoten der Wahrheit marschieren nicht in Uniform, sie sprechen leise und verstĂ€ndnisvoll, geben vor, es gut zu meinen. Ihre Macht ist die SchwĂ€che ihrer Opfer. Menschen sind unsicher, haben ein schlechtes Gewissen, sehnen sich nach Rechtfertigung, suchen Halt im Sinn. Wahrheitsbesitzer reden von Gott und meinen sich selber. Keine anderen Götter dulden sie neben sich. Sie haben Gott fĂŒr tot erklĂ€rt, um sich auf seinen Thron zu setzen.

HĂŒtet euch vor den Wahrheitsbesitzern. Ihre VerfĂŒhrungskraft ist gross. Alle Menschen sind verfĂŒhrbar. Ihr Gift ist so sĂŒss, dass jeder ihm verfallen kann. Es sind BetrĂŒger, geschniegelte, salonfĂ€hige, geschmeidig unterwegs auf den oberen Etagen. Sie verseuchen und zerstören alles, was sie in die Finger kriegen. Sie verdrehen die Worte, pervertieren die Werte, höhlen Institutionen aus, errichten AltĂ€re, Götzen, falsche Heilige, denen gehuldigt werden soll. Sie stĂŒrzen die Welt in Konflikte, in endlose Kriege, nicht selten ehrlich ĂŒberzeugt, verblendet, das Gute zu betreiben.

Nichts hassen die Wahrheitsbesitzer mehr als Freiheit und Vielfalt. Das Durcheinander der Demokratie ist ihnen zuwider. Ihr Hauptfeind ist die Wirklichkeit. Sie ersetzen sie durch Kulissen, durch Konstrukte und Behauptungen, die niemand hinterfragen darf. Das ist ihre grösste SchwĂ€che. Hinter ihrer Wahrheit steht nichts, ausser einer Pose, ausser Zwang und Konvention, ausser der gebieterischen AllĂŒre, deren Macht nicht aus Fakten und Argumenten kommt, sondern aus Drohungen, aus Intoleranz, am Ende aus Gewalt.

Das ist der Grund, warum sich die Wahrheitsbesitzer niemals durchsetzen, aber sehr viel Schaden anrichten. Die Weltgeschichte ist voller Beispiele. Sie liefert stĂ€ndig neue. Am schlimmsten wĂŒten WahrheitseigentĂŒmer dort, wo der Selbstbetrug am grössten ist, wo man sich seiner Sache am sichersten und Zweifel verboten ist. Nichts ist gefĂ€hrlicher als eine Gruppe von Menschen, die von der Richtigkeit ihres Anliegens restlos ĂŒberzeugt sind. Das ist der Punkt, wo VerstĂ€ndigung verpönt und «verstehen» ein Schimpfwort ist.

Wahrheitsbesitzer verschleiern ihre Diktatur, indem sie ĂŒberall Diktaturen sehen, ausser bei sich selbst. Despoten brauchen andere Despoten, um ihre eigene Despotie zu verschleiern, wĂ€hrend sie sie errichten. TĂ€uschung und Selbstbetrug gehen Hand in Hand. Demokratien sind besonders gefĂ€hrdet, weil demokratische Regierungen und Politiker auch dann noch von Demokratie reden, wenn sie dabei sind, ihre Demokratie zu beerdigen.

Selbstgerechtigkeit, moralische Überheblichkeit, der Glaube an die Unfehlbarkeit des eigenen Standpunkts, «Cancel-Culture» und politische Korrektheit: Das ist der NĂ€hrboden, auf dem die Wahrheitsbesitzer florieren. Im Westen, in den USA, in Europa, Deutschland, aber auch in der Schweiz erleben sie gerade wieder eine BlĂŒtezeit. Ihre wichtigsten Helfer waren frĂŒher die Kirchen, sind heute die Medien, die Journalisten, die der Einfalt unter dem Vorwand, «Fake News» und «Desinformation» zu bekĂ€mpfen, Vorschub leisten.

Die Macht der Wahrheitsbesitzer sind unsere GleichgĂŒltigkeit, unsere Feigheit. Solange niemand aufsteht, verbreiten sie ihr Unheil. Je frĂŒher man sie stoppt, desto besser. Tröstlich: Nicht der Besitz, das stete Streben, die unvollendete Suche nach der Wahrheit macht den Menschen aus. VorĂŒbergehend kann es den Wahrheitsbesitzern gelingen, die Wahrheitssucher, die Zweifler in den Schatten, ins Zwielicht zu stellen. Wahrheitsbesitzer verkaufen die Droge falscher Gewissheit. Aber die Menschen sind nicht dumm. FrĂŒher oder spĂ€ter durchschauen sie den faulen Zauber. R. K.

Die 3 Top-Kommentare zu "Wahrheitsbesitzer gegen Wahrheitssucher"
  • balthasar

    Einfach genial. Nur wer liest das? Unsere Sozis oder GrĂŒne? Wohl kaum, denn die mĂŒssten sich, falls sie's verstehen sĂ€mtliche Haare ausreisen. Wobei GlĂ€ttli und Hofreiter, die hĂ€tten noch welche.

  • stadttreuhand

    Hervorragend analysiert und geschrieben. Dem ist nichts hinzuzufĂŒgen.

  • Möösler

    Hesch es wieder krass uf de Punkt bracht, Roger!