Eine nationale Erinnerungsstätte – ein Memorial – soll künftig in Bern und St. Gallen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Der Bundesrat hat eine entsprechende Forderung aus dem Parlament aufgenommen. In der Bundeshauptstadt soll ein zentraler Erinnerungsort entstehen, der erinnert, vermittelt (also lehrt) und vernetzt, sich also mit bereits bestehenden Gedenkstätten und Institutionen verknüpft. Dieses Vermittlungs- und Vernetzungsangebot ist im Kanton St. Gallen geplant.

Nun könnte man einwenden, die Schweiz sei keineswegs Erfinderin und Vollstreckerin des Holocaust und der Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden gewesen. An den Deutschen, den Österreichern und allenfalls den von ihnen im Zweiten Weltkrieg unterworfenen Ländern liege es, eine Erinnerungs- und eine damit verbundene Schuld- und Schamkultur zu pflegen.

Das ist natürlich nicht völlig falsch. Und doch greift eine solche Beurteilung zu kurz. So bequem es wäre, die ganze und ausschliessliche Schuld den Deutschen zuzuteilen, geht die historische Wahrheit eben doch tiefer. Niemand wollte in den 1930er Jahren jene Juden aufnehmen, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. An der Konferenz von Evian im Juni 1938, an der zahlreiche Staaten und Hilfsorganisationen über die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen berieten, erklärte sich kaum ein einziger Staat zu grosszügigen Taten bereit.

Wie alle anderen Länder – vorab auch die USA – gab sich die Schweiz restriktiv. Die Verantwortlichen hegten Bedenken über ein Anschwellen des Antisemitismus im Inland; zusätzlich plagte sie die Furcht vor dem übermächtigen deutschen Nachbarland. Dieses Scheitern der Konferenz von Evian konnten die Nazis schamlos für ihre Propaganda ausschlachten: «Seht alle her, nicht nur wir, auch alle anderen wollen die Juden nicht haben.»

Gewiss wird die neue Gedenkstätte auch an mutige Schweizer Helfer und Retter erinnern. Es sollte auch gewürdigt werden, dass unser Land selbst in düsterster totalitärer Umklammerung ein Rechtsstaat geblieben ist. Niemand wurde hier mit staatlicher Billigung misshandelt, gefoltert oder ermordet. Die Schweiz hat in jenen Jahren rund 30.000 jüdische Flüchtlinge aufgenommen – Schweden, in einer weit besseren geopolitischen Situation, nur 12.000. Unser Land hat mehr Juden aufgenommen als die typischen Auswanderungsländer Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika zusammen. Aber an der Schweizer Grenze wurden auch Tausende jüdischer Flüchtlinge zurückgewiesen.

Wie so gut wie alle anderen Länder hat auch die Schweiz keinen Grund, die düstersten Vorgänge der bisherigen Geschichte als Kollektivschuld ausnahmslos und ausschliesslich den Deutschen zuzuschieben. Sie war bezüglich Antisemitismus und restriktive Haltung gegenüber jüdischen Flüchtlingen leider kein Sonderfall. Es ist eben nie gut, wenn die Schweiz kein Sonderfall sein will.