Weltwoche: Herr Banaszek, Chełm liegt nur einige Kilometer sowohl von der ukrainischen als auch der belarussischen Grenze entfernt. Die Stadt hat 60.000 Einwohner, und seit dem 24. Februar flüchten täglich immer mehr Flüchtlinge aus der Ukraine nach Chełm. Wie sieht die Lage momentan aus?

Jakub Banaszek: Insgesamt sind seit Beginn der Invasion bereits einige Hunderttausend ukrainische Flüchtlinge nach Chełm gekommen, täglich sind das etwa an die 20.000 Menschen. Unsere Stadt liegt de facto schon an der Front, und deswegen haben wir etliche Aufnahmepunkte auf die Beine gestellt, die auf Rotationsbasis funktionieren. Hier können unsere ukrainischen Gäste eine Zeit lang bleiben, zu Kräften kommen, eine warme Mahlzeit zu sich nehmen und ein, zwei Tage übernachten. Danach wollen viele an andere Orte in Polen, und dabei helfen wir ihnen. Diejenigen, die in Chełm bleiben möchten, haben auch diese Möglichkeit. Derzeit befinden sich 3000 Personen in den Aufnahmepunkten, die eine Kapazität von 4000 Plätzen haben. Sehr viele Flüchtlinge sind schon bei Privatpersonen in Chełm untergekommen und wohnen dort gemeinsam mit polnischen Familien.

Weltwoche: Wer unterstützt Sie finanziell?

Banaszek: Die Aufnahmepunkte werden von der Regierung finanziert, ebenso die Lebensmittel, die wir für die Flüchtlinge brauchen. Das, was darüber hinaus fehlt, bringen unsere Mitbürger spontan den Bedürftigen. Natürlich werden die Flüchtlinge aus der Ukraine auch von der Stadt Chełm selbst unterstützt, ausserdem helfen wir jenen Familien finanziell, die Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen haben. Eine grosse Rolle spielt auch die Kirche. Die Pfarreien in Chełm haben Menschen aus der Ukraine bei sich aufgenommen und sind uns eine grosse Hilfe.

Weltwoche: Was fordern Sie von der EU?

Banaszek: Vor allem sollte sie die Lage endlich ernst nehmen. Ich habe in den letzten Tagen mit Vertretern vieler EU-Länder gesprochen, die geschockt sind, dass es bei uns keine Flüchtlingslager gibt. Się sehen nur die Aufnahmepunkte und das anschliessende Verfahren, das sehr gut koordiniert ist. Daher haben sie den Eindruck, dass es da gar kein Problem gebe. Und ja, es stimmt, dass wir uns gut organisiert haben und die Hilfsbereitschaft der Polen bereits jetzt legendär ist; aber wir sind ein Land mit 38 Millionen Einwohnern, das innerhalb von drei Wochen zwei Millionen Menschen aufgenommen hat. Das ist zweimal so viel wie ganz Europa im ganzen Jahr 2015. Die Lage ist ernst, und das sollte die EU endlich begreifen. Ausserdem brauchen wir finanzielle Hilfe, sowohl für die Flüchtlinge selbst als auch für den polnischen Staat, der die ganzen Hilfeleistungen momentan alleine stemmt. Denn das, was die EU jetzt an Geldern bereitstellen will, ist bei weitem nicht genug. Drittens sollten sich auch andere EU-Länder bereit zeigen, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen.

Weltwoche: Zumal noch mehr Flüchtlinge kommen werden.

Banaszek: Das ist richtig, wir erwarten mindestens noch einmal doppelt so viele, und auch darauf bereiten wir uns vor. Wir rechnen mit fünf Millionen Flüchtlingen. Das Allerwichtigste ist zwar, diesen Menschen möglichst schnell zu helfen. Aber jedes Land kommt irgendwann an seine Kapazitätsgrenzen. Halten Sie sich das vor Augen: Ein Land allein soll fünfmal mehr Menschen bei sich aufnehmen als ganz Europa im Jahr 2015.

Weltwoche: Wollen viele Ukrainer überhaupt weiter in den Westen, oder bleiben sie lieber in der Nähe ihrer Heimat?

Banaszek: Das ist situationsabhängig. Die meisten hoffen auf ein rasches Kriegsende, sodass sie nach Hause zurückkehren können. Es gibt allerdings auch Fälle, wo Flüchtlinge aus Westeuropa nach Polen zurückkommen, weil sie dort nicht heimisch wurden. Die EU sollte mehr Verantwortung übernehmen für die Krise an ihrer Aussengrenze; das muss klar gesagt werden. Viel Unterstützung erhalten wir von unseren westlichen Partnerstädten wie zum Beispiel Sindelfingen in Deutschland oder von Stiftungen, NGOs oder Vereinen aus Westeuropa. Von ihnen bekommen wir materielle Hilfe, die wir in die Ukraine weiterleiten.

Weltwoche: Nach Polen kommen hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern. Wie wollen Sie es schaffen, die Ukrainer in die polnische Gesellschaft zu integrieren?

Banaszek: Die ukrainischen Kinder gehen bereits mit ihren polnischen Kollegen gemeinsam in die Schule, was die beste Basis für eine erfolgreiche Integration ist. In der Schule haben sie gemeinsame Aufgaben, ausserdem stellt die Stadt Chełm ausserschulische kulturelle Aktivitäten zur Verfügung, an denen sich sowohl ukrainische als auch polnische Kinder mit ihren Eltern beteiligen können. Wir suchen auch nach Möglichkeiten, denjenigen, die in Polen bleiben wollen, eine Arbeitsstelle zu sichern, was nicht einfach ist, da die wirtschaftliche Lage in diesem Teil Polens auch vor dem Krieg schon relativ angespannt war.

Die 3 Top-Kommentare zu "Jakub Banaszek, Stadtpräsident der polnischen Grenzstadt Chelm, schlägt Alarm. Die EU sollte die Lage endlich ernst nehmen. Polen nimmt fünfmal mehr Flüchtlinge auf als ganz Europa im Jahr 2015"
  • juege

    Es ist wohl ein Unterschied, ob man Nachbarn in Not aufnimmt oder die Schlepper Mafia unterstützt.

  • chrüttlibuur

    Jakub Banaszek, das grosse Vorbild. Wohl wissentlich, dass die polnische Lebensqualität... na ja... die Flüchtlinge bald nach Zentraleuropa durchreisen. Schon wieder tragen die europäischen Nationen die Konsequenzen für US-Amerikanischer imperialer Machthunger! Dafür kaufen nun europäische Nationen für mehrere hundert Milliarden $ Offensivwaffen. Nicht nur unsere Regierungsverwaltung ist mit Blindheit, Infantilität und kognitiver Dissonanz geschlagen.

  • oazu

    Ja, ja, EU soll Lage ernst endlich nehmen. Und dann? Ernst nehmen heisst pragmatisch und fokussiert mit eigenen Händen helfen. Weit gefehlt in Krise auf EU-Brussels zu warten. Da wird besprochen und besprochen, in Aussicht gestellt und in Aussicht gestellt, … bis Zeit oder wer anders Problem löst. Noch nie hat EU-Brussels in Krise was zu Stande gebracht, das ist erst geschehen wenn Natonalstaaten Heft selber in Hand nahmen und EU-Brussels ignorierten, siehe Migranten-Anstürme, Corona-Disaster.