Im Juli 2021 tat der russische Präsident Wladimir Putin etwas sehr Ungewöhnliches für einen europäischen Staatschef im 21. Jahrhundert. Er schrieb (oder veröffentlichte unter seinem Namen) einen langen historischen Artikel darüber, dass Ukrainer und Russen ein und dasselbe Volk seien und der Westen seit Jahrhunderten versuche, sie zu trennen.

Putins Mischung aus zaristischen und sowjetischen Axiomen machte in der Ukraine keinen Eindruck. Dreissig Jahre nach ihrer Unabhängigkeit hatte die Ukraine ihr eigenes Geschichtsbild gefestigt. Es war das einer alten Nation, die sich 1917 und 1991 von der imperialen Herrschaft befreit hatte. Es war das einer demokratischen, multiethnischen Gesellschaft, die zweimal im 21. Jahrhundert durch Volksrevolutionen ihr Bekenntnis zu westlichen Werten demonstriert hatte.

Meinungsverschiedenheiten über die Geschichte sind in Europa keine Seltenheit, aber sie führen in der Regel nicht dazu, dass Panzerarmeen an einer Grenze ihre Motoren aufheulen lassen. Warum ist der russisch-ukrainische Konflikt so anders?

Man könnte einen langen geschichtlichen Exkurs darüber machen, dass die ukrainischen Gebiete jahrhundertelang europäischen kulturellen Einflüssen und politischen Ideen ausgesetzt waren, die Russland nicht erreichten, oder dass das russische Reich die Veröffentlichung von Büchern in ukrainischer Sprache verbot.

Aber der Kern der Uneinigkeit liegt in der jüngeren Vergangenheit. Die Ukraine feierte den 100. Jahrestag des Sturzes der Romanow-Monarchie als Beginn ihrer nationalen Revolution, die kurzzeitig die Ukrainer aus dem russischen und dem österreichisch-ungarischen Reich in einem Staat vereinte. Im Gegensatz dazu begegnete Russland dem Jahrestag mit peinlichem Schweigen. Die meisten Ukrainer sehen Stalin heute als blutrünstigen Tyrannen, während die Mehrheit der Russen ihn als grosse historische Figur betrachtet. Schliesslich hat Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet, während die Ukraine ihn als ihren Unabhängigkeitstag feiert.

Russland heisst sowohl Stalin als auch die Zaren gut, weil sie Autoritarismus und ein riesiges Imperium symbolisieren. Bei dem Konflikt geht es also nicht um die historische Verbindung zwischen Ukrainern und Russen, sondern um die Art der Politik, die beide Länder bestimmt. Auch wenn viele (aber immer weniger) Ukrainer zu Hause noch Russisch sprechen, sind sie doch eine ganz andere politische Nation. Eine demokratische Ukraine fordert allein durch ihre Existenz Russland heraus.

Serhy Yekelchyk ist ein kanadischer Historiker mit ukrainischen Wurzeln.

Die 3 Top-Kommentare zu "Was der Konflikt um die Ukraine mit einem offenen Brief von Putin, der Romanow-Monarchie und Stalin zu tun hat"
  • chrütlibuur

    Ich denke, der grosse Teil der Russen steht auf starke und kluge Politiker. Es ist unglaublich, in welchen Langzeitschachzügen dieser Mann denkt. Im Gegenzuge zu den USA. Da muss der Chef nur taff sein. Ebenso die Briten. "Baue ich Müll zu Hause, liefere ich ein paar Panzerabwehrwaffen..." Und in Deutschland und der Schweiz? Immerhin hat der Kleine dem Grossen "Nein" gesagt. Und dem Franzosen gefällt es, als UNO-Swingstaate mal von Hinten und von Vorne. Manche Narrative sind nur grotesk.

  • Ludwig Detusch

    Putin ist ein begabter Autokrat, aber die von ihm produzierten Schalmeienklänge stossen bei den Kleinrussen ("Ukrainern") auf taube Ohren. Zielführender wäre wohl die Weiterverfolgung des 1991 von Jelzin zum "langfristigen politischen Ziel" erhobenen russischen NATO-Beitritts. Zusammen mit den übrigen Europäern und den USA könnte Russland dem Rest der Welt die Stirn bieten. Die Chinesen will Russland doch wohl noch viel weniger in Sibirien sehen als die Amerikaner oder Europäer.

  • hondo

    "demokratischen, multiethnischen Gesellschaft ... Bekenntnis zu westlichen Werten" Ab da war klar, aus welcher Ecke ins Horn geblasen wird. OSF ick hör Dir trapsen. Tante Startpage befragt und huch, lugt da doch der nette Onkel George ums Eck, der so gerne die Welt zu einem besseren Ort machen möchte. Hochnotpeinlich wie selbst "kritische" Medien der ach so neutralen Schweiz ihre Leserschaft auf Kurs bringen wollen.