Betrachtet man die soeben beschriebene dreissigjährige Geschichte, muss man sich Folgendes fragen: Wie würde die Führung der USA in der umgekehrten Situation reagieren – wenn zum Beispiel Russland oder China in der Nähe des amerikanischen Territoriums ähnliche Schritte durchführen würden? Wie würde Washington reagieren, wenn Russland ein Militärbündnis mit Kanada eingeht und dann knapp mehr als hundert Kilometer von der US-Grenze entfernt Raketenbasen errichtet? Was würde geschehen, wenn Russland diese Raketenbasen für Übungen mit scharfen Waffen nutzt, um die Zerstörung von militärischen Zielen in Amerika zu proben? Würde die US-Regierung die mündlichen Zusicherungen Russlands akzeptieren, dass seine Absichten friedlich sind?

Natürlich nicht. Wahrscheinlich würde die Reaktion folgendermassen aussehen: Die Militärstrategen und Politiker der USA würden sich mit dem offensiven Potenzial der Waffen und Trainingsübungen befassen. Sie würden den erklärten Absichten keine Beachtung schenken und sich ernsthaft bedroht fühlen. Sie könnten die Übungen mit scharfen Waffen als Zeichen eines bevorstehenden russischen Angriffs deuten. Die USA würden den Abzug der Raketen verlangen. Wenn diese Forderung nicht umgehend erfüllt wird, könnten die USA mit einem Präventivschlag auf die Raketenbasen reagieren. Das könnte wiederum einen allgemeinen Krieg und womöglich eine Eskalation bis hin zu einem thermonuklearen Schlagabtausch auslösen. Die US-Führung und sicherlich auch die meisten US-Bürger würden dann Russland die moralische Schuld für Amerikas Präventivschlag zuschreiben und diesen als Selbstverteidigung bezeichnen.

Seit die Monroe-Doktrin vor beinahe 200 Jahren formuliert wurde, gestatten die USA es potenziell bedrohlichen ausländischen Mächten grundsätzlich nicht, Streitkräfte in der westlichen Hemisphäre zu stationieren. Dadurch wird der Grundsatz der US-Politik deutlich, dass die geografische Nähe von Truppen von strategischer Bedeutung ist, unabhängig von den erklärten Absichten. Diese Überzeugung bildet den Eckpfeiler der amerikanischen Aussenpolitik.

Doch in ihren Beziehungen zu Russland handeln die USA allein oder manchmal gemeinsam mit ihren Nato-Verbündeten unter grober Missachtung derselben Grundsätze, selbst wenn diese auf lokaler Ebene – also in unmittelbarer Nähe zu Russland – angewendet werden. Die USA ziehen sich einseitig aus Rüstungskontrollverträgen zurück, schüren antirussische Revolutionen in Nachbarländern Russlands und bringen ihre Streitkräfte und ihre Manöver nahe an russisches Territorium heran. Diese Schritte rechtfertigen sie damit, dass die Absichten des Westens friedfertig seien und das Ziel lediglich darin bestehe, Russland von einem Angriff abzuschrecken. Dabei schienen sie sich keine Gedanken darüber zu machen, wie vernünftige russische Politiker und Militärstrategen sowie russische Durchschnittsbürger dieses Verhalten auffassen könnten – oder wie ein solches Vorgehen im Laufe der Zeit politische sowie militärische Positionen und Entscheidungen Russlands beeinflussen könnte. Oberst Macgregor beschreibt das so:

Was, wenn Russland ein Militärbündnis mit Kanada eingeht?

«Ich habe immer wieder versucht, den Menschen zu erklären, dass das, was in der Ukraine geschieht, für die Russen eine existenzielle Angelegenheit ist. Die Ukraine ist kein weit entferntes Land in Nordafrika. Die Ukraine grenzt unmittelbar an Russland. Russland wird keine ausländischen Streitkräfte und Waffen in einem Land dulden, das ihm feindlich gesinnt ist und möglicherweise seine Existenz bedrohen könnte. Ich habe eine Analogie zu Mexiko gezogen und frage die Leute: ‹Versteht ihr nicht, was wir tun würden, wenn die Russen, die Chinesen oder irgendwer anderer Truppen in Mexiko stationieren würden?›»29

1962 stationierten die Sowjets Atomraketen auf Kuba und lösten dadurch die Kubakrise aus. Dies geschah kurz nachdem die USA mit nuklearen Sprengköpfen bestückte Jupiter-Raketen in der Türkei stationiert hatten, was jedoch weniger bekannt ist. Beendet wurde die Krise schliesslich dadurch, dass die Sowjets ihre Raketen im Rahmen einer geheimen Vereinbarung zwischen den USA und der Sowjetunion abzogen. Dieser zufolge sollten beide Länder die beanstandeten Waffen wieder abziehen, was ebenso wenig bekannt ist. Wie vereinbart zogen die USA in aller Stille ihre Raketen aus der Türkei ab – mehrere Monate nachdem die Sowjets ihre Raketen aus Kuba abgezogen hatten.

Der Zusammenhang zwischen dem Abzug der Raketen wurde nicht öffentlich gemacht. Deshalb zogen viele im Westen aus der Kubakrise eine falsche Lehre. Sie schlussfolgerten fälschlicherweise, dass die USA durch eine unerbittliche Zurschaustellung von Stärke und die Androhung einer nuklearen Eskalation ein hochriskantes strategisches Spiel gewonnen hatten. Tatsächlich wurde ein Atomkrieg durch einen Kompromiss vermieden. Dieser kam zustande, weil Präsident John F. Kennedy zuvor ein gutes persönliches Verhältnis zum sowjetischen Regierungschef gepflegt hatte. Dadurch konnte er glaubwürdig und vertrauensvoll verhandeln und so die Situation deeskalieren.30 Die heutige Situation ist natürlich eine ganz andere.

Schliesslich sollte noch etwas dazu gesagt werden, ob die westlichen Staaten 1990 und 1991 zugesagt hatten, die Nato nicht in Richtung der russischen Grenze zu erweitern.

Das Thema der westlichen Zusagen hat in den Augen vieler Beobachter grosse Bedeutung erlangt. Einige dieser Beobachter vertreten die Meinung, dass mangels formeller vertraglicher Verpflichtungen keine tatsächlichen Zusagen gemacht wurden; oder sie behaupten, dass Zusagen gemacht wurden, diese aber rechtlich nicht bindend waren. Andere versichern, dass die Nato nicht wirklich die Absicht hat, der Ukraine in den nächsten Jahren die Mitgliedschaft anzubieten. Dadurch sei die gesamte Frage der Mitgliedschaft der Ukraine bedeutungslos. Zwei Punkte sind hier wichtig.

Erstens: Ob nun die Osterweiterung der Nato gegen formelle Vertragsverpflichtungen verstossen hat oder nicht – was eindeutig nicht der Fall war –, die Missachtung des Westens seiner eigenen Zusicherungen gegenüber Russland wirft die Frage auf, ob sich Putin und andere russische Politiker getäuscht, gedemütigt und nicht respektiert gefühlt haben. Dieses Verhalten des Westens hat ein grundlegendes Misstrauen geschürt, und die daraufhin folgenden Handlungen haben dieses Misstrauen noch weiter verstärkt. Zweitens: Selbst wenn wir in einem Gedankenspiel unterstellen, dass der Westen seine Absichten nicht falsch dargestellt hat, das heisst, wenn wir als reine Diskussionsgrundlage davon ausgehen, dass es keine Zusicherungen gegeben hat, dann bleibt dennoch der tatsächliche militärische Eingriff der Nato und des Westens als grösseres Problem bestehen.

Letztlich ist es nicht ausschlaggebend, ob 1990/1991 Zusicherungen gemacht wurden. Es ist auch nicht ausschlaggebend, ob die militärische Bedrohung durch bilaterale oder multilaterale Aktionen zwischen der Ukraine und den westlichen Staaten von der Nato ausging oder von ausserhalb der Nato. Drohungen sind Drohungen, unabhängig von den Worten oder Taten, die diesen vorausgehen, und unabhängig vom administrativen Weg, auf dem sie zustande kommen. Wichtig ist vielmehr die Antwort auf diese Frage: Wie ist die Situation vor Ort, und wie können eine Nation, deren Interesse ihr eigener Weiterbestand ist, und eine umsichtige Führung, die diesen Weiterbestand sicherstellen soll, auf eine solche Bedrohung reagieren? Das gilt es zu verstehen, wenn man die Frage der westlichen Aktionen und Provokationen betrachtet.

Die 3 Top-Kommentare zu "3. Aus umgekehrter Perspektive betrachtet"
  • Proxima Centauri

    Nochmals für Sie: Die USA stationierten zuerst nuklear bestückte Raketenbasen in der Türkei. Die USSR reagierten darauf mit "Quid Pro Quo" bezüglich Kuba. Falls Sie es schon wieder vergessen haben: Noch im Dezember '21 ersuchte RU um ein Abkommen mit neutraler UKR. Dasselbe wieder im April '22, sabotiert von BoJo und seinen transatlantischen Freunden.

  • Proxima Centauri

    Für Sie nochmals zum Mitschreiben: Die US verletzte im Feb. 2014 als Erste das Budapest Memo §3 durch ihren mit 5 Mia finanzierten Putsch einer demokratisch gewählten Regierung und Installation eines Puppet Regimes mit FBI Filiale in Kiew. Alles andere ist eine Konsequenz davon, inkl. Krim. Übrigens: "überwältigende Mehrheit": Die Mehrheit der Erdbevölkerung hat sich bei Res. ES11/1 der Stimme enthalten. Ohne das Damoklesschwert von Wirtschaftssanktionen (siehe CH) hätte es anders ausgesehen.

  • 4waldstaettersee

    Dieser Krieg ist auch ein neuartiges Operationsfeld am lebenden Menschen weil dort alles "erlaubt" ist. Besonders US + britische Gasteinheiten testen Waffen, die weil neu noch nicht verboten sind. Bio-Labore? sicher! USA ist führend in Gaststaaten Methoden einzusetzen die zu Hause verboten sind. Man weiss von Foltergefängnissen in Polen. Guantanamo, völkerrechtswidrig, ist nicht "tot" zu kriegen. USA hat jeden Krieg nach WK 2 verloren, haut irgendwann ab von Vietnam bis Afghanistan. Fluchtartig.