Obwohl einige oder sämtliche der oben beschriebenen westlichen Provokationen im Westen allgemein anerkannt sind, wird manchmal behauptet, dass es nach 2014 keine neuen Provokationen gegeben habe. Aufgestellt wird diese Behauptung meist im Rahmen des breitgefassten Arguments, dass zwischen dem Staatsstreich von 2014 und dem Einmarsch Russlands im Jahr 2022 acht Jahre lägen. Deswegen treffe die Behauptung, Putins Verhalten sei in der Gefährdung der nationalen Sicherheit begründet, nicht zu. Tatsächlich setzte der Westen seine Provokationen gegenüber Russland auch nach 2014 fort. Sie wurden sogar noch verschärft und haben sich dahingehend verändert, dass sie eine direktere Bedrohung für Russlands Sicherheit darstellten.

Nachdem Russland die Kontrolle über die Krim übernommen hatte, starteten die USA ein umfassendes Programm zur militärischen Unterstützung der Ukraine. Laut dem Congressional Research Service der USA beläuft es sich seit 2014 auf über vier Milliarden US-Dollar – die seit Kriegsausbruch 2022 geleisteten Militärhilfen sind dabei noch nicht berücksichtigt –, die zum Grossteil vom Aussen- und vom Verteidigungsministerium bereitgestellt wurden.18 Ein Ziel dieses Programms ist die «Verbesserung der Interoperabilität mit der Nato» – ungeachtet der Tatsache, dass die Ukraine (noch) nicht Mitglied der Nato ist.

Im Jahr 2016 hatten die USA, nachdem sie zuvor den ABM-Vertrag (Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen) gekündigt hatten, einen ABM-Standort in Rumänien in Betrieb genommen. Der ABM-Standort dient vordergründig der Verteidigung, verfügt jedoch über Raketenabschussrampen vom Typ Mark 41 «Aegis». Diese können verschiedenste Raketentypen aufnehmen: nicht nur ABMs, welche anfliegende ballistische Raketen abschiessen sollen, sondern auch – und das ist entscheidend – nuklear bestückte Angriffswaffen wie Tomahawk-Marschflugkörper. Tomahawks haben eine Reichweite von bis zu 2500 Kilometern und können Moskau und andere Ziele tief in Russland treffen. Zudem können sie nukleare Sprengköpfe mit einer variablen Sprengkraft von bis zu 150 Kilotonnen tragen. Das entspricht etwa dem Zehnfachen der Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Ein ähnlicher Aegis-Standort wird gerade in Polen errichtet und soll bis Ende 2022 in Betrieb genommen werden. Die Aegis-Abschussrampen an diesen Standorten können je 24 Raketen aufnehmen, wodurch es möglich ist, 48 Tomahawk-Marschflugkörper aus relativ kurzer Entfernung auf Russland abzuschiessen.

Putin hat wiederholt betont, dass die Präsenz dieser offensivfähigen Aegis-Abschussvorrichtungen nahe der russischen Grenze eine direkte Gefahr für Russland darstelle. Die USA beteuern jedoch, dass die ABM-Standorte dazu dienen, auf Europa gerichtete Sprengköpfe aus dem Iran oder aus Nordkorea abzufangen. Angesichts dessen, dass die Abschussrampen eine mögliche offensive Bedrohung nahe der russischen Grenze darstellen, könnte ein amerikanisches Ziel – womöglich sogar das Hauptziel – bei der Errichtung dieser ABM-Standorte darin bestehen, zusätzlichen offensiven Druck auf Moskau auszuüben und gleichzeitig glaubhaft zu leugnen, dass eine solche Bedrohung beabsichtigt ist.

Die Regierung Trump begann, Waffen an die Ukraine zu verkaufen.

Die USA beschwichtigten Putins Bedenken gegenüber den ABM-Standorten mit der Zusicherung, dass sie keine Absicht hätten, die Abschussrampen für einen offensiven Einsatz zu konfigurieren. Diese Antwort verlangt jedoch von den Russen, selbst in einer Krise auf die erklärten Absichten der USA zu vertrauen, anstatt anhand des Potenzials der Systeme eine Bedrohungsanalyse durchzuführen. Es trägt nicht zu Russlands Sicherheitsgefühl bei, wenn in der Aegis-Marketingbroschüre von Lockheed Martin, dem Hersteller der Abschussrampen, festgehalten wird: «Das System kann in jeder Zelle jede beliebige Rakete aufnehmen – eine Fähigkeit, welche eine beispiellose Flexibilität bietet.»19

Im Jahr 2017 begann die Regierung von Präsident Donald J. Trump, tödliche Waffen an die Ukraine zu verkaufen. Das stellte eine Abkehr von der Politik der Jahre 2014 bis 2017 dar, in denen nur nichttödliche Produkte verkauft wurden (zum Beispiel Schutzwesten und verschiedene technische Ausrüstungen). Die Regierung von Trump bezeichnete diese neuen Verkäufe als «defensiv». Bei tödlichen Waffen sind die Kategorien «offensiv» und «defensiv» jedoch in erster Linie eine Frage der Perspektive: defensiv für jene, welche die Waffen besitzen, offensiv für jene, welche ins Visier genommen werden. Wie John Mearsheimer feststellte, «sahen diese Waffen für Moskau allerdings offensiv aus».20

2019 stiegen die USA einseitig aus dem Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme von 1987 aus. Auf die strategische Bedeutung dieses Schrittes werde ich in Kapitel 4 eingehen.

Die USA waren nicht die Einzigen, die damit begannen, tödliche Waffen an die Ukraine zu verkaufen. Sie waren auch nicht die Einzigen, die sich militärisch mit der Ukraine abstimmten, obwohl diese noch kein Nato-Mitglied war. Mearsheimer merkt dazu Folgendes an:

«Das ist eine existenzielle Bedrohung für Russland.»

«Andere Nato-Länder schlossen sich an, lieferten Waffen an die Ukraine, bildeten ihre Streitkräfte aus und erlaubten ihr die Teilnahme an gemeinsamen Luft- und Seemanövern. Im Juli 2021 veranstalteten die Ukraine und die USA gemeinsam ein grosses Marinemanöver in der Schwarzmeerregion, an dem Seestreitkräfte aus 32 Ländern teilnahmen. Die Operation Sea Breeze hätte Russland beinahe dazu provoziert, auf einen britischen Zerstörer zu feuern, der absichtlich in ein Gebiet eindrang, welches Russland als sein Hoheitsgewässer betrachtet.»21

Sogar als westliche Staaten ausserhalb der Nato das ukrainische Militär bewaffneten, ausbildeten und sich mit ihm abstimmten, führte die Nato selbst in der Region um Russland verstärkt Militärmanöver durch. So veranstaltete zum Beispiel die Nato im Jahr 2020 in Estland eine Übung mit scharfen Waffen – nur knapp mehr als hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Dabei wurden taktische Raketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern eingesetzt. Solche Waffen können russisches Territorium mit minimaler Vorwarnzeit treffen. Im Jahr 2021 feuerte die Nato wiederum in Estland 24 Raketen ab, um einen Angriff auf Luftverteidigungsziele innerhalb Russlands zu simulieren.22 Der Westen erklärt zwar, dass solche Raketen nur nach einem Angriff Russlands eingesetzt werden würden, aber kein vernünftiger Militärstratege würde die nationale Sicherheit aufgrund der erklärten Absichten eines potenziellen Feindes aufs Spiel setzen. Vielmehr würde dieser Stratege auf die Offensivfähigkeit und den Standort der Waffen achten.

Während sie diese militärischen Aktivitäten aktiv fortsetzte, erklärte die Nato weiterhin, dass die Ukraine der Nato beitreten werde. Bei ihrem Gipfel im Juni 2021 in Brüssel bestätigte die Nato ihr Engagement: «Wir bekräftigen den 2008 auf dem Gipfel in Bukarest gefassten Entschluss, dass die Ukraine ein Mitglied des Bündnisses wird.»23 Zwei Monate später, im August 2021, unterzeichneten die Verteidigungsminister der USA und der Ukraine einen strategischen Verteidigungsrahmen zwischen ihren beiden Ländern.24 Dieser Rahmen überführt die Erklärung der Nato in eine bilaterale (amerikanisch-ukrainische) politische Entscheidung, die militärischen Verhältnisse vor Ort unverzüglich zu ändern, unabhängig davon, ob die Ukraine Mitglied der Nato ist oder nicht. Neun Wochen danach unterzeichneten die Aussenminister der beiden Staaten ein ähnliches Dokument, die Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine.25 Dieses Dokument bezog sich ebenso wie das zuvor von den Verteidigungsministern unterzeichnete auf die Nato-Erklärungen von 2008 und 2021 und setzte diese Erklärungen bilateral um – unverzüglich und ungeachtet dessen, was mit der Nato geschehen würde.

Im Zeitraum von 2017 bis 2021 gab es daher nahe der russischen Grenze ein Zusammentreffen zweier Arten von militärischen Aktivitäten. Die eine Art bezog sich auf die bilateralen militärischen Beziehungen und beinhaltete umfangreiche Lieferungen tödlicher Waffen sowie gemeinsame Ausbildungs- und Interoperabilitätsübungen der Ukraine und des Westens, welche in der Ukraine stattfanden. Zudem wurden offensivfähige Raketenabschussrampen in Rumänien in Betrieb genommen – Polen sollte bald folgen. Die andere betraf militärische Aktivitäten der Nato selbst und umfasste Abschussübungen mit scharfen Raketen. Diese sollten Angriffe auf Ziele in Russland simulieren. Dass die simulierten Angriffe von einem an Russland angrenzenden Nato-Land ausgingen, das entgegen früheren Zusicherungen gegenüber Moskau in die Nato aufgenommen worden war, machte die Sache noch schlimmer. All das geschah vor dem Hintergrund einer erneuten Zusicherung, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen werden würde. Russland empfand dieses Zusammentreffen militärischer Aktivitäten als direkte Bedrohung seiner Sicherheit. Mearsheimer erklärt:

«Wenig überraschend empfand Moskau diese Entwicklung als untragbar und begann, seine Armee an der ukrainischen Grenze zu mobilisieren, um Washington gegenüber seine Entschlossenheit zu verdeutlichen. Das zeigte jedoch keine Wirkung, und die Biden-Regierung näherte sich der Ukraine weiter an. Dies brachte Russland dazu, im Dezember [2021] eine diplomatische Pattsituation herbeizuführen. Oder wie es der russische Aussenminister Sergei Lawrow formulierte: ‹Wir haben unseren Siedepunkt erreicht.›»26

Im Dezember 2021 wies zudem der russische Botschafter in den USA in der Zeitschrift Foreign Policy darauf hin, dass die Nato jährlich etwa vierzig grosse Übungen in der Region um Russland durchführe. Er warnte: «Die Situation ist äusserst gefährlich.» Er bekräftige damit erneut, was dreizehn Jahre zuvor William Burns in seinem «Nyet means Nyet»-Telegramm deutlich gemacht hatte:

«Alles hat seine Grenzen. Wenn unsere Partner [die USA und die Nato-Länder] weiterhin militärisch-strategische Tatsachen schaffen, welche die Existenz unseres Landes gefährden, sehen wir uns dazu gezwungen, bei ihnen ähnliche Gefährdungen herzustellen. Wir befinden uns jetzt an einem Punkt, an dem kein Rückzug mehr möglich ist. Die militärische Erschliessung der Ukraine durch Nato-Mitgliedstaaten ist eine existenzielle Bedrohung für Russland.»27

Mearsheimer beschreibt, was danach geschah:

«Russland verlangte eine schriftliche Garantie, dass die Ukraine niemals Teil der Nato werden wird, und dass das Bündnis die militärischen Ressourcen, die es seit 1997 in Osteuropa stationiert hat, wieder abzieht. Die anschliessenden Verhandlungen scheiterten, als [US-Aussenminister] Blinken klarstellte: ‹Es sind keine Änderungen eingetreten. Es wird keine Änderungen geben.› Einen Monat später befahl Putin die Invasion der Ukraine, um die seiner Meinung nach von der Nato ausgehende Bedrohung zu beseitigen.»28

Die 3 Top-Kommentare zu "2. Westliche Provokationen: 2014–2022"
  • anscho

    Die Bedrohung Russlands durch die NATO ist nur eines der Argumente für den Einmarsch Russlands in der Ukraine. Das andere, gleich wichtige wichtige Argument ist die Verfolgung der russisch-sprachigen Bevölkerung im Donbas und im Süden des Landes durch rechts-nationalistische Milizen. Daraus entstand der Separatismus im Donbas. In Odessa wurde der Separatismus im Keim erstickt mit den Morden im brennenden Gewerkschaftshaus durch die Milizen. Russisch wurde in der Folge zunehmend verboten.

  • knut hamsun

    Ein Staat, in dem sich die Menschen von den USA bezahlen lassen, um auf die Strasse zu gehen (Maidan) und vom selben Geldgeber vorgeschrieben bekommen, wer der neue Präsident wird, ist nicht souverän.

  • teresa.hasler

    Kurz und gut recherchiert und geschrieben. Vermutlich werden jene die diesen Artikel lesen sollten, ihn nicht zur Kenntnis nehmen. Aber man kann später nicht sagen, dass man es nicht hätte wissen können.