Wer ist verantwortlich für die humanitäre Katastrophe in der Ukraine, für den Tod Tausender ukrainischer Zivilisten und Soldaten und für die Einberufung ukrainischer Zivilisten zum Militärdienst? Wer ist verantwortlich für die Zerstörung ukrainischer Häuser und Unternehmen und für die Flüchtlingskrise, die nun zu jener aus dem Nahen Osten hinzukommt? Wer ist verantwortlich für den Tod Tausender junger Männer, die in den russischen Streitkräften dienen und sicherlich meist so wie ihre ukrainischen Kollegen glauben, dass sie für den Schutz ihrer Nation und ihrer Familien kämpfen? Wer ist verantwortlich für den anhaltenden Schaden, welcher der Wirtschaft und den Bürgern Europas und der USA zugefügt wird? Wer ist verantwortlich, wenn Ausfälle in der Landwirtschaft zu Hungersnöten in Afrika führen, einem Kontinent, der stark von der Einfuhr von Getreide aus der Ukraine und Russland abhängig ist? Und wer ist schliesslich verantwortlich, wenn der Krieg in der Ukraine in einen nuklearen Schlagabtausch eskaliert und dann zu einem ausgewachsenen Atomkrieg wird?

Eigentlich ist die Antwort auf all diese Fragen recht einfach: Putin ist dafür verantwortlich. Er hat den Krieg begonnen und bestimmt mit seinen Militärstrategen, wie er geführt wird. Er hätte nicht in den Krieg ziehen müssen. Das sind Tatsachen. Aber Tatsachen müssen unter Bezugnahme auf andere Tatsachen interpretiert werden, auch auf solche, die längst aus den Schlagzeilen verschwunden sind oder es erst gar nicht dorthin geschafft haben. Wenn man das macht, dann wird klar, dass die Politiker in den USA und in Europa den Krieg zu einem wesentlichen Teil mitverantworten.

Die Beurteilung der relativen Verantwortung Moskaus, Washingtons und der verschiedenen europäischen Regierungen wird unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie man bestimmte historische Ereignisse, das Vorgehen der einzelnen Beteiligten sowie die relative Wichtigkeit, die man der inneren und äusseren Kausalität beimisst, gegeneinander abwägt. Dennoch wage ich zu behaupten, dass, wenn man alles berücksichtigt, die Hauptverantwortung beim Westen und insbesondere bei den USA liegt. Ich kenne keinen völlig zufriedenstellenden Weg, um diese Behauptung zu begründen. Es gibt keine validierte Methodik der Zumessung von Schuld auf die verschiedenen Akteure, die alle zumindest eine gewisse Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit haben. Ich glaube jedoch, dass wir Einblicke gewinnen können, indem wir eine kontrafaktische Geschichte mit folgender Fragestellung entwerfen: Wo stünden wir nun, wenn die USA anders gehandelt hätten? Das ist ein hypothetisches Szenario, und die sich daraus ergebenden Mutmassungen können niemals bewiesen oder widerlegt werden. Aber diese kontrafaktische Betrachtung passt gut zur Geschichte der letzten dreissig Jahre und ist meiner Meinung nach ebenso aufschlussreich wie plausibel.

Hätten die USA nicht auf die Erweiterung der Nato bis an die Grenze Russlands gedrängt; hätten sie nicht nuklearfähige Raketenabschussvorrichtungen in Rumänien stationiert und in Polen und vielleicht auch anderswo geplant; hätten sie 2014 nicht zum Sturz der demokratisch gewählten ukrainischen Regierung beigetragen; hätten sie nicht den ABM-Vertrag und dann den Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen abgeschafft und abschliessend die russischen Versuche, ein bilaterales Moratorium für die Stationierung auszuhandeln, ignoriert; hätten sie keine Übungen mit scharfen Raketen in Estland durchgeführt, um das Anvisieren von Zielen innerhalb Russlands zu üben; hätten sie kein umfangreiches Militärmanöver mit 32 Nationen in der Nähe des russischen Territoriums organisiert; hätten sie die Streitkräfte der USA nicht mit denen der Ukraine verknüpft; und so weiter und so fort – hätten die USA und ihre Nato-Verbündeten diese Dinge nicht getan, wäre der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich nicht ausgebrochen. Das ist meiner Meinung nach eine vernünftige Behauptung.

Tatsächlich würde ich sogar behaupten, dass die Situation heute eine ganz andere wäre, wenn zwei oder drei der vielen hier diskutierten Provokationen nicht stattgefunden hätten. Ich habe bereits zuvor das Bild einer Sandburg genutzt, um eine Analogie zu ziehen. Es lässt sich nicht einfach vorhersagen, wie viel Sand in welcher Anordnung die Sandburg verträgt. Dennoch ist klar, dass sie umso instabiler wird, je grösser die Sandmenge ist, je höher sich der Sand auftürmt und je mehr Wasser er enthält. Ich würde sagen, dass der Westen Schäufelchen um Schäufelchen Sand aufgehäuft hat und ein klar denkender, rationaler Akteur wahrscheinlich erkannt hätte, dass dies zum Zusammenbruch führen würde. Der Krieg in der Ukraine ist ein solcher Zusammenbruch, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass nicht noch mehr Katastrophen folgen werden, egal, wie sehr sich die Kriegsstrategen der USA einbilden, Russlands militärische Kapazitäten stark schwächen zu können.

Europas Regierungen stehen bis zur Hüfte im Sumpf.

Und selbst damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Die US-Regierung hat durch ihre Worte und Taten die ukrainische Führung und das ukrainische Volk möglicherweise dazu veranlasst, eine unnachgiebige Haltung gegenüber Russland einzunehmen. Anstatt auf einen Verhandlungsfrieden im Donbass zwischen Kiew und prorussischen Autonomisten zu drängen und diesen zu unterstützen, haben die USA extrem nationalistische Kräfte in der Ukraine gefördert. Sie haben die Ukraine mit Waffen beliefert, die militärische Integration und Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte intensiviert, sich geweigert, die Pläne zur Aufnahme der Ukraine in die Nato aufzugeben und bei der ukrainischen Führung und Bevölkerung womöglich den Eindruck erweckt, dass sie im Namen der Ukraine direkt in einen Krieg gegen Russland ziehen würden.

All das mag den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beeinflusst haben, der 2019 mit einer Friedensplattform zur Präsidentschaftswahl angetreten war und mit mehr als 70 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Doch letztlich scheiterte er, dies durchzuführen. Selbst angesichts des drohenden Krieges wollte er keine Kompromisse im Namen des Friedens eingehen. Am 19. Februar, fünf Tage vor dem russischen Einmarsch, traf sich Selenskyj in München mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Laut Wall Street Journal schlug Scholz vor, ein Friedensabkommen zu vermitteln. Er sagte zu Selenskyj, «dass die Ukraine auf ihre Nato-Bestrebungen verzichten und ihre Neutralität erklären sollte, als Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheitsabkommens zwischen dem Westen und Russland. Der Pakt würde von Putin und Biden unterzeichnet, die gemeinsam die Sicherheit der Ukraine garantieren würden. Selenskyj erwiderte, dass man Putin nicht trauen könne, ein solches Abkommen einzuhalten, und dass die meisten Ukrainer einen Nato-Beitritt befürworten würden. Seine Antwort machte deutsche Politiker besorgt, dass die Chancen auf Frieden schwinden.»45

In einem kürzlich erschienenen Interview vertrat Richard Sakwa die Meinung, dass Selenskyj mit nur fünf Worten Frieden mit Russland hätte schliessen können: «Die Ukraine wird kein Nato-Mitglied.» Sakwa führte weiter aus: «Wenn Putin geblufft hat [über die entscheidende Bedeutung der Nato-Erweiterung], dann soll man ihn Farbe bekennen lassen. Stattdessen [. . .] gibt es diesen katastrophalen Krieg [. . .] Es war leichtsinnig, das Schicksal einer Nation und insbesondere auch das Schicksal seines eigenen Volkes aufs Spiel zu setzen.»46

Wie ist es dazu gekommen, dass ein Friedensverfechter, der über einen eindeutigen Wählerauftrag für Verhandlungen über ein Ende des Donbass-Konflikts erhalten hat, auf seinem Standpunkt beharrt und auf Krieg gesetzt hat? Wenn sich die Ukraine von den USA nicht irreführende und unrealistische Vorstellungen hätte aufdrängen lassen, dann hätte sie meiner Meinung nach längst einen Modus Vivendi mit Russland ausgehandelt und den Status der politischen Neutralität erreicht – etwas, was der Ukraine jetzt, und nur wenn sie Glück hat, nach der Zerstörung der Hälfte ihres Landes, dem Tod Tausender und der Vertreibung und Verarmung von Millionen noch gelingen könnte. Neutralität hat in Europa eine lange Tradition. Sowohl Österreich als auch Finnland waren der Sowjetunion gegenüber neutral und haben daraus grossen Nutzen gezogen. Die Regierungsform in Moskau hat sich zwar geändert, aber die geostrategischen Gründe für die Neutralität sind dieselben geblieben. Warum hat die Ukraine nicht diesen Weg eingeschlagen?

Kurz nach der Wahl Selenskyjs im Jahr 2019 behauptete Stephen F. Cohen in einem Interview, dass Selenskyj die aktive Unterstützung der USA benötigen würde, um dem Druck – einschliesslich der Todesdrohungen gegen ihn – der extremen ukrainischen Rechten standzuhalten. Ohne diese Unterstützung, so die Prognose von Cohen, wäre Selenskyj ausserstande, Frieden zu schaffen:

Die Hauptverantwortung für den Krieg liegt beim Westen, bei den USA.

«[D]er neue Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, trat als Friedenskandidat an [. . .] Er erhielt einen riesigen Wählerauftrag, Frieden zu schliessen. Das bedeutet, dass er mit Wladimir Putin verhandeln muss [. . .] Aber seine Bereitschaft – und das ist wichtig und wird hier [in den USA] kaum berichtet –, direkt mit Putin zu verhandeln, [. . .] erforderte [von Seiten] Selenskyjs beträchtlichen Mut, denn in der Ukraine sind viele Leute dagegen, und sie sind bewaffnet. Manche nennen sie Faschisten, aber mit Sicherheit sind sie Ultranationalisten, und sie haben angekündigt, dass sie Selenskyj absetzen und töten werden, wenn er diesen Weg der Verhandlungen mit Putin weitergeht [. . .] Selenskyj kann nicht weitermachen [. . .] es sei denn, Amerika steht hinter ihm. Vielleicht reicht das nicht aus, aber wenn das Weisse Haus diese Diplomatie nicht unterstützt, hat Selenskyj keine Chance [. . .]»47

Meines Wissens hat Selenskyj von den Amerikanern keine nennenswerte Unterstützung bei der Verfolgung seiner Friedensagenda erhalten. Stattdessen wurde er wiederholt von führenden amerikanischen Politikern und Beamten des Aussenministeriums besucht, die alle ein theoretisches Prinzip der absoluten ukrainischen Freiheit postulierten, definiert als das «Recht», der Nato beizutreten und einen militärischen Aussenposten der USA an der russischen Grenze zu errichten. Am Ende war diese «Freiheit» nicht mehr als ein Wunschtraum. Obwohl sie die Ziele der USA – oder, genauer gesagt, die Interessen bestimmter amerikanischer politischer, militärischer und finanzieller Gruppierungen – förderte, zerstörte sie die Ukraine.

Selbst aus einer eindimensionalen amerikanischen Perspektive war der gesamte westliche Plan ein gefährlicher Bluff, der aus kaum nachvollziehbaren Gründen durchgeführt wurde. Die Ukraine stellt beim besten Willen kein wesentliches Sicherheitsinteresse der USA dar. Tatsächlich spielt die Ukraine kaum eine Rolle. Aus amerikanischer Sicht – und ich sage das, ohne das ukrainische Volk beleidigen zu wollen – ist die Ukraine irrelevant. Die Ukraine ist für die Bürger der USA nicht wichtiger als irgendeines der fünfzig anderen Länder, welche die meisten Amerikaner aus völlig verständlichen Gründen erst nach langem Suchen auf einer Landkarte finden würden. Also ja, die Ukraine ist für Amerika irrelevant. Und wenn sich die Führer der USA und der Nato diese offensichtliche Tatsache eingestanden hätten, wäre all das nicht passiert.

Russland teilt hingegen mit der Ukraine eine beinahe 2000 Kilometer lange Grenze und eine Geschichte, in deren Verlauf der Westen dreimal auf dem Landweg einmarschiert ist. Die letzte westliche Invasion während des Zweiten Weltkriegs hatte den Tod von etwa 13 Prozent der gesamten russischen Bevölkerung zur Folge. Deshalb ist die Ukraine für Russland von allerhöchstem Interesse.

Dass sich Russland durch eine vom Westen bewaffnete, ausgebildete und militärisch integrierte Ukraine in seiner Existenz bedroht fühlt, hätte Washington von Anfang an klar sein müssen. Welcher vernünftig denkende Mensch konnte glauben, dass die Präsenz eines westlichen Waffenarsenals an Russlands Grenze keine starke Reaktion hervorrufen würde? Welcher vernünftige Mensch konnte davon ausgehen, dass die Stationierung eines solchen Arsenals die Sicherheit der USA erhöhen würde? Und falls das nicht klar gewesen sein sollte, hätten spätestens 2008 sämtliche Unklarheiten darüber beseitigt sein sollen. Damals telegrafierte der US-Botschafter in Russland, William Burns, der jetzt Bidens CIA leitet, nach Washington, dass die Ukraine für Russland die roteste aller roten Linien sei. Man muss kein Genie sein, um die Gründe dafür zu verstehen. Dennoch scheint diese offensichtliche Realität für viele im Aussen- und im Verteidigungsministerium der USA, in der Nato und in den Medien sowie für den amtierenden US-Präsidenten undurchschaubar zu sein.

Was bedeutet das also für die Bürger der USA und ihre europäischen Verbündeten?

Offen gesagt, sind sie – wir – in einer sehr misslichen Lage. Es ist eine Lage, die nicht nur äusserst gefährlich ist und die ganze Welt dem Risiko eines Atomkriegs aussetzt: Diese Situation konnte nur durch ein Ausmass an Dummheit und Blindheit der US-Regierung und ein Mass an Ehrfurcht und Feigheit der europäischen Politiker erreicht werden, das beinahe unvorstellbar ist. In einem Interview wurde Gilbert Doctorow kürzlich gefragt, was US-Bürger am dringendsten über den Krieg wissen sollten. Er antwortete: «Euer Leben ist in Gefahr.» Er fuhr fort:

«Putin hat zu Protokoll gegeben, dass er sich eine Welt ohne Russland nicht vorstellen kann. Und wenn die Amerikaner die Absicht haben, Russland zu zerstören, dann wird die amerikanische Absicht die Selbstzerstörung sein [. . .] [Amerika] steht vor einer existenziellen Bedrohung, die es selbst geschaffen hat. Und der Ausweg aus dieser Bedrohung liegt für alle auf der Hand: ein Deal mit Putin [. . .]»48

Die Politiker in Washington und die europäischen Regierungen – mitsamt den gefügigen, feigen Medien, die deren Unsinn kritiklos nachplappern – stehen jetzt bis zur Hüfte im Sumpf. Es ist schwer vorstellbar, dass diejenigen, die dumm genug waren, diesen Sumpf zu betreten, nun die Klugheit aufbringen, sich selbst zu befreien, bevor sie vollends versinken und uns alle mitreissen.