Siehe, die Welt ist nicht verdammt, und der Mensch ist doch immer wieder in der Lage, aus der Sackgasse seiner Irrtümer und Verblendungen herauszufinden. Das ist das Wunder oder, darf man es noch sagen, die Gnade des Lebens, das grösste Geschenk, das wir ohne jedes Verdienst bekommen haben.

Daran musste ich denken, als ich mir das gut zweistündige Interview von Tucker Carlson mit dem russischen Präsidenten Putin angeschaut habe. Wer will, kann darin eine ganze Reihe interessanter, hoffnungsfroher Botschaften finden, die zudem geeignet wären, Fehlurteile und Missverständnisse abzubauen und Frieden aufzubauen.

Natürlich sind viele im Westen nicht so leicht bereit, sich von ihren Vorstellungen und hartnäckig gepflegten Feindbildern zu verabschieden. Die Dämonisierung Putins zum Erzschurken der Gegenwart, zum Polit-Satan im Gruselkabinett von Dschingis Khan bis Hitler ist bei uns zu einem liebgewonnenen Denk-Ersatz geworden.

Deshalb war auch zu erwarten, dass unsere Medien das Gespräch, anstatt es neugierig zu analysieren, zum Anlass nahmen, es schnöde wegzuwischen oder ihre bekannten Hypothesen aufzuwärmen. Putin allerdings wird inzwischen eher ausgelacht als verteufelt – als «Märchenonkel» oder endlos brabbelnder «Geschichtsautist».

Ins gleiche Kapitel hämischer Überheblichkeit gehören die Kommentare, die den Journalisten zum US-Talker Tucker Carlson einfielen, dem der Sensationscoup gelungen war. Viel zu unkritisch habe er den Kremlchef befragt, ganz so, als ob unsere Medien nur superkritische Interviews mit Putins Gegenspieler Selenskyj führen würden.

Dabei widersprach Carlson dem russischen Präsidenten durchaus, doch er liess ihn eben auch ausreden. Das war die grosse Provokation – und auch der Mehrwert: Putin endlich einmal im O-Ton, nicht vorgekaut und einsortiert durch die viel zu einseitigen und voreingenommenen Meinungsingenieure in den Medien.

So konnte sich jeder sein eigenes Bild machen. Und siehe da: Putin wirkte nicht wie der verrückte, paranoide Diktator, als den ihn die Journalisten seit zwei Jahren verleumden und verharmlosen. Gut, der siebzigjährige Dauerherrscher neigte zu gewissen Längen, doch er war vital, eloquent, bestens informiert, schlagfertig und sogar humorvoll.

Einige machen sich jetzt lustig über seine Geschichtsvorlesung zum Einstieg, aber Hand aufs Herz: Mit welchem amtierenden Bundesrat könnte man eine halbe Stunde lang über die habsburgische Thronfolge in der frühen Eidgenossenschaft und ihre Auswirkungen auf die Allianzbildung unter den alten Kantonen fachsimpeln?

Ist Putin gar der Kälteschock der Wirklichkeit, den der Woke-Westen so dringend brauchte?

Putin ist lange, zu lange an der Macht, aber das gibt ihm den Vorteil der Erfahrung. Er hat den Niedergang des Westens und die unmittelbare Zeitgeschichte hautnah erlebt. Oft steckte er mittendrin. Darum würde er auch keinen Blödsinn wie «Zeitenwende» sagen. Er weiss zu genau, dass alles, was passiert, seine Vorgeschichte hat.

Sprechen unsere Politiker über Russland, sind sie voller Abscheu, ein Sperrfeuer der Tiraden, Anfeindungen und Unterstellungen. Umso wohltuender und nüchterner wirkte da der Vortrag Putins. Er redete kontrollierter, sachbezogener und, ja, auch höflicher als seine rhetorisch enthemmten Kritiker im Westen.

Einige, die böser Absicht sind oder von Geschichte nun wirklich keine Ahnung haben, behaupten, Putin sei der neue Hitler. Nun, Hitler verkörpert in der deutschen Geschichte den Abgrund an Tyrannei, Zerstörung, Verbrechen. Putin hingegen gehört in Russlands Tradition zu den demokratischsten, westlichsten Staatschefs überhaupt.

Und im Unterschied zum Kolossalversager Hitler auch zu den erfolgreichen. Die Behauptung, Putin wirtschafte sein Land ins Elend, ist kühn. Man vergleiche nur das funkelnde Moskau mit London, New York, Paris oder dem versifften Berlin. Natürlich ist Moskau nicht Russland, aber Moskau ist viel schöner als manche Hauptstadt Europas.

Das war für mich das eigentlich Bemerkenswerte: Putins Auftritt war im Grunde der weitausholende Versuch, sich dem Westen wieder verständlich zu machen, Brücken zu bauen, zu Bruch gegangene Beziehungen wiederherzustellen. Putin sprach nicht im klirrenden Despoten-Sound. Er redete wie einer, der sich missverstanden fühlt.

Aber das grosse Problem unserer Zeit und unserer westlichen Welt, um es mal so allgemein auszudrücken, besteht ja gerade darin, dass wir von Besser- und Alleswissern regiert und journalistisch betreut werden, von Leuten, die aus Mangel an fundierter Sachkenntnis sich wenigstens moralisch für unfehlbar halten.

Nichts ist bezeichnender für die Vertrottelung unserer Politik und unserer Medien, als dass im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sogar das Wort «verstehen» auf die schwarze Liste kam. Wenn Menschen aber tatsächlich aufhören, verstehen zu wollen, taumeln, ja stürzen sie, notwendigerweise, von einem Missverständnis ins nächste.

Je mehr nun offensichtlich wird, dass die gleichen Zauberer, die uns schon die Klimapolitik, die Masseneinwanderung, den schleichenden EU-Beitritt und Deutschland eine Wirtschaftsmisere eingebrockt haben, auch mit ihren Anti-Putin-Strategien danebenlagen, desto verbissener klammern sie sich an ihre Irrtümer.

Im Krieg zwischen Illusion und Wirklichkeit siegt aber immer die Wirklichkeit. Die Frage ist nur: Zu welchem Preis? Die moraltriefende Überheblichkeit des Westens verhindert einen längst möglichen Kompromissfrieden in der Ukraine. Putin bekräftigte erneut, er stehe zu Verhandlungen und auch für die Gegner «gesichtswahrenden» Einigungen bereit.

Schliessen wir mit einer provokativen Hoffnung. Vielleicht ist es eben doch so, wie die Weltwoche vor zwei Jahren schrieb: Putin, «der Missverstandene», hilft dem Westen, unfreiwillig, aus seinen selbstgewählten Illusionen des Hochmuts zu erwachen. Ist Putin gar der Kälteschock der Wirklichkeit, den der Woke-Westen so dringend brauchte?

Vielleicht stellen am Ende alle fest, dass sie sich verrannt haben: Der Westen hat Putin, den Petersburger Europäer, unterschätzt und chronisch missverstanden. Putin wiederum hat den Westen unterschätzt und wohl auch die Ukraine. In ihren Irrtümern können sich jetzt alle wieder näherkommen. Siehe, die Welt ist nicht verdammt.