Die offene Gesellschaft ist in akuter Gefahr. Die neuen Abschotter und Freiheitsfeinde, moderne Höhlenmenschen, sind auf dem Vormarsch. Überall errichten sie Gefängnisse, Scheiterhaufen, brennen sie Brücken ab und ziehen ihre Schreckensherrschaft der Unfreiheit hoch. Ihr jüngster Angriff zielt auf den Freihandel, den weltweiten Austausch von Gütern, Waren und Dienstleistungen. Kauft nicht bei denen, treibt keinen Handel mit jenen – die selbsternannten Hüter ihrer Hochmoral sind eine real existierende Bedrohung für Frieden und Wohlstand auf der Welt.

Die offene Gesellschaft – geprägt hat diesen Begriff der britisch-österreichische Philosoph Sir Karl Raimund Popper, Zeitzeuge der mörderischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Gegen die Prediger des Hasses, der Ideologie und der Politik verfasste er in London eine berühmte Kampfschrift: «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde». Sie wurde zur Bibel einer ganzen Generation. Der ungarisch-amerikanische Investor George Soros erklärte Popper zum Leitgestirn und Säulenheiligen. Im Gespräch mit der Weltwoche bekannte der hocherfolgreiche Unternehmer, Popper sei für ihn ein Idol, eine ewige Inspiration, ein politisches Vorbild.

Vielleicht ist es übertrieben, aber sicher nicht falsch, Popper den prägenden Fundamentaldenker eines aufgeklärten, wehrhaften Liberalismus zu nennen. Ähnlich wie die grossen Ökonomen Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, die das Problem der Freiheit als Frage der Volkswirtschaft abhandelten, zielte Popper aufs Grundsätzliche. Er wandte sich, als Erkenntnistheoretiker (Was kann ich wissen?), gegen die stets lockende Versuchung der Intellektuellen, das Chaos der Geschichte auf berechenbaren Axiomen festzuzurren. Kein grösserer Aberglaube als die Idee, die Geschichte folge einer naturgesetzlichen Notwendigkeit.

Darin sah Popper den grossen Irrtum, die fürchterliche Gefahr. Marx, Lenin, Hitler, aber auch Philosophen wie Hegel, den er zu Unrecht ins Visier nahm, hätten sich eingebildet, die menschliche Seele, dieses Gewirr an Trieben, Gefühlen und Leidenschaften, Ur-Stoff der Politik, zu durchschauen, die angeblichen Gesetze der Geschichte, daraus abgeleitet das trügerische Selbstvertrauen, die fanatische Gewissheit der Ideologie – mit verbrecherischer Konsequenz. Dagegen stellte Popper seine friedliche Vision der Bescheidenheit, den Verzicht auf absolute politische Wahrheiten, dafür die Tugend der Offenheit, der Diskussion, der Demokratie, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Man geht nicht fehl in der Annahme, in diesem liberalen Credo eine geistige Erfolgsgrundlage der westlichen Zivilisation zu erblicken. Freiheit, Vielfalt, Rechtsstaat und weltweiter Freihandel, mit dem Wort «Globalisierung» nur unzureichend beschrieben und ideologisch überhöht, sind zu Pfeilern eines Weltwunders von Frieden und Wohlstand geworden. Das ist der Grund, warum Leute wie Soros oder Konferenzen wie das World Economic Forum, aber auch die meisten Regierungen, egal, ob links oder rechts, den Freihandel jahrzehntelang fast religiös gepredigt haben als unverzichtbare Voraussetzung für eine bessere Welt. Sie hatten recht.

Umso verstörender, umso absurder erscheint die abrupte, schockartige Schubumkehr, eine Art «Great Reset», der die einstigen Vorantreiber und Anhänger des Freihandels jetzt in nicht minder glühende Verfechter des Gegenteils verwandelt: Abschottung, Rückzug, wenn nicht Abbruch, so doch massive Einschränkung der globalen Vernetzung. «Entkoppelung» lautet ihre neue Kampfparole. Die Minnesänger einer möglichst grenzübergreifenden, weltumspannenden Wirtschaft mit dem Ziel, die alten Feinde des Kalten Kriegs aus ihren Schützengräben zu locken, allen voran George Soros und Klaus Schwab, seilen sich ab, sind zu Ideologen der Scholle geworden.

«Kauft nicht bei den Chinesen!» – «Haltet euch von den Russen fern!» – «Boykottiert alles, was nicht in unser Weltbild passt.» Im gespenstischen Gleichschritt mit den linken Verächtern des Freihandels verkünden Schwab und Co. heute ihr neues Woke-Evangelium: Konfrontation statt Kooperation. Intoleranz statt Toleranz. Krieg statt Frieden. Von einer Verheissung, einer Chance, wird der freie Austausch des gegenseitigen Nutzens zur Waffe gegen die Ungläubigen, gegen die moralisch Minderwertigen umgerüstet. Die Popper-Jünger, die Apostel der offenen Gesellschaft sind zu ihren Feinden geworden; Tempelritter eines neuen Kreuzzugs.

Für kleine Länder wie die Schweiz ist das verheerend. Die «Globalisierung» hat allen Unkenrufen zum Trotz die Welt besser, reicher, gerechter gemacht. Hunderte Millionen Menschen fanden Anschluss. Profitiert haben vor allem die Armen, die Kleinen. Wird das alles zurückgedreht, zerstückelt und verhackt, gewinnen die Grossen, drohen dramatische Verluste an Wohlstand samt ihren Folgekatastrophen. Die Welt droht wieder in Imperien und Protektorate zu zerfallen. Die Philosophie des Freihandels, der Freiheit soll gewaltsam verdrängt werden durch ein neues Stammesdenken, durch Merkantilismus, Kolonialismus, Überheblichkeit und Heuchelei.

Die Ideologie der Abschottung breitet sich nicht nur in der Wirtschaft aus. Im Geistigen tobt ein neuer Gender-Biologismus, eine Scheiterhaufenmentalität der politischen Korrektheit, die alles abrasieren will, was abweicht. Erleben wir den Zusammenbruch einer Zivilisation, eine Zeitenwende zurück ins Mittelalter? Damals brach, auch aus purer Dekadenz, der Universalismus der antiken Welt zusammen. Aus den schönen Trümmern wucherten Frömmler- und Sektierertum, die neue Unübersichtlichkeit zahlloser kriegerischer Fürstenhäuser. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis Europa das verlorengegangene Zivilisationsniveau zurückerlangte.

Und wieder einmal steht die europäische Kultur an einer Abbruchkante. Auch vor etwas über hundert Jahren, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, hielt man einen Zivilisationsabsturz für unwahrscheinlich. Zu angenehm seien die Zeiten, zu gross die Verflechtung. Die Sorglosigkeit verflog auf den blutdurchtränkten Schlachtfeldern zweier Weltkriege. Dem Wahnsinn voraus ging der Triumph der Ideologie, Propaganda, an die man selber glaubt. Auch damals trumpften die Abschotter, die Biologisten und die Fanatiker auf. Wer für den Frieden war, galt als Verräter, als «Volksfeind», «Schädling» der einzig wahren Gesinnung. Menschen sind verführbar, Politiker, Intellektuelle und Journalisten besonders. Ideologie ist ein mächtiges, zerstörerisches Gift.

Es gilt heute, mehr denn je, die offene Gesellschaft, den Freihandel, die Zusammenarbeit über alle politischen und kulturellen Unterschiede hinweg zu verteidigen, zu pflegen. Persönlichkeiten wie George Soros oder Klaus Schwab, die viel Gutes gemacht haben, scheinen sich an eine Ideologie des Weltstaats auszuliefern, an die Utopie einer unter einem, unter unserem System zusammenwachsenden und zusammenrückenden Menschheit. Der Weltstaat wäre die schlimmste Tyrannei. Denn nichts gefährdet die Freiheit, die offene Gesellschaft mehr als die schreckliche Einfalt einer einzigen Autorität, Monokultur, und gebe sie sich auch noch so aufgeklärt und demokratisch. Macht korrumpiert. Absolute, gar weltumspannende Macht korrumpiert absolut. Verteidigt den Freihandel, rettet die Freiheit!