Richard Overy: Weltenbrand. Der grosse imperiale Krieg 1931–1945. Rowohlt Berlin. 1520 S., Fr. 67.90

Wie viele Bücher wurden über den Zweiten Weltkrieg geschrieben? Hunderte? Tausende? Zehntausende? Sicher ist, dass kein Ereignis Historiker, Zeitgeschichtler, aber auch Schriftsteller mehr beschäftigt hat. Einige Bücher sind zu Standardwerken geworden, zu Pflichtlektüre. Andere sezierten gewissermassen diese Weltkatastrophe und beschäftigten sich mit einzelnen Aspekten: Personen, Schlachten, Waffen. Und jedes Jahr wächst die Literatur über diesen Krieg weiter. Braucht man also wirklich noch ein umfassendes Werk? Ein Buch, das mit einem Umfang von anderthalbtausend Seiten zudem ein ziemlicher Brocken ist?

Und wie es das brauchte! «Weltenbrand» ist nicht einfach nur ein weiteres Buch über den Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht nur das Ergebnis lebenslanger Forschung und Erfahrung. Schliesslich hat der renommierte britische Historiker Richard Overy vierzig Jahre an diesem Opus magnum gearbeitet. Es ist nicht nur eine Fundgrube überraschender und zuweilen unbekannter Details.

 

Kriegerische «Belle Epoque»

Sein Buch ist mehr als all das. Es ist ein Augenöffner, denn Overy verändert die Brennweite, mit der er auf den Krieg blickt. Er erklärt die konventionelle Chronologie 1939 bis 1945 für obsolet. Für ihn begannen die eigentlichen Kampfhandlungen bereits 1931, und abgeschlossen wurden sie erst in den 1960er Jahren. Zur Vorgeschichte zählt er nicht nur, im Einklang mit den meisten Kollegen, den Ersten Weltkrieg, die erste Etappe eines «zweiten Dreissigjährigen Krieges». Für Overy begann der «grosse imperiale Krieg» im ausklingenden 19. Jahrhundert.

In jener Zeit, als «Belle Epoque» verklärt, habe Europa Gewalt in die ganze Welt exportiert. Fast überall auf dem Globus hätten europäische Staaten Krieg geführt: Russland gegen Japan, Spanien gegen die USA, Grossbritannien gegen die südafrikanischen Buren, Italien gegen das Osmanische Reich. Daher sei es ein Trugschluss, das fatale Jahr 1914 als Ende einer Friedensperiode zu deuten.

Ein Mythos ist die «Weltherrschaft», nach der Hitler angeblich strebte. Overy vertritt die These, dass der Zweite Weltkrieg das Zeitalter des Imperialismus beendete. Der Sieg der alten Imperien – Grossbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien – über die Parvenü-Imperialisten Deutschland, Japan und Italien läutete zugleich den Niedergang ihrer eigenen Reiche ein. Die wahren Sieger dieses Ringens waren drei Mächte, die den Imperialismus aus unterschiedlichen Gründen stets verurteilt hatten: die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und China. Bezeichnend aber auch zwei Kolonialmächte, die Overy nicht erwähnt: Spanien und Portugal. Sie standen im Krieg auf der falschen Seite, bewahrten ihre Imperien aber länger als die anderen Mächte.

Berlin, Rom und Tokio fühlten sich nicht erst in den 1930er Jahren bei der Aufteilung der Welt als zu spät und zu kurz gekommen. Aber der Verlust ihrer überseeischen Gebiete im Frieden von Versailles stillte nicht das Verlangen nach «Lebensraum». Den Auftakt machte Japan 1931 mit der Annexion der Mandschurei. Gleichsam über Nacht hatte sich das Kaiserreich ein Gebiet einverleibt, das fast so gross war wie Kontinentaleuropa. Dort verfolgte man den Landraub mit Interesse, vor allem in Berlin und Rom. Benito Mussolini folgte dem Beispiel mit dem Einmarsch in Äthiopien. Overy enthüllt nebenbei, dass der Duce weiterreichende Pläne hatte: Korsika, Ägypten, Malta und der Sudan standen auf seiner Wunschliste. Schliesslich griff er 1938 nach Albanien.

Aber auch für die klassischen Imperialmächte war die Vorkriegszeit keine friedliche Epoche. So führte Frankreich Krieg in Marokko und in Syrien und musste einen kommunistischen Aufstand in Indochina niederschlagen. Grossbritannien war in Palästina in einen verlustreichen Kleinkrieg verwickelt. Allerorten versuchten die kolonisierten Völker aufzubegehren. Dies alles führt Overy zu der überraschenden These, dass Adolf Hitler, Mussolini und das japanische Militär nicht Ursache der grossen Krise waren, sondern deren Resultat.

Den Krieg selbst handelt der Autor umfassend in Einzelkapiteln ab, von denen jedes ein eigenes Buch sein könnte: Zivilschutz, Widerstand, Desertionen, Bombardierungen, psychische Probleme, Plünderungen, Gewalt gegen Frauen, Mobilisierung für einen totalen Krieg, Kriegsgefangene. Beim letzten Punkt freilich hat Overy einen blinden Fleck. Er spart nicht nur das Schicksal deutscher Gefangener in der Sowjetunion aus, er spricht auch die westlichen Alliierten von jeder Grausamkeit an deutschen Kriegsgefangenen frei – was nachweislich nicht stimmt.

Ein Verdienst von «Weltenbrand» ist, dass das Buch mit Mythen aufräumt. Ein solcher Mythos ist die «Weltherrschaft», nach der Hitler angeblich strebte. Doch Overy weist dies als westliche Propaganda nach. In Deutschland habe «weder ein kohärenter Plan noch eine gezielte Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft» bestanden. Vielmehr sei der Krieg ein Resultat von Entscheidungen gewesen, die in London und Paris fielen. Hitler hätte lieber seine Eroberung Polens konsolidieren wollen, doch Britannien und Frankreich seien zuversichtlich gewesen, Deutschland schlagen zu können.

 

Doppelmoral der Alliierten

In diesem Zusammenhang rettet Overy auch die Ehre des britischen Premierministers Neville Chamberlain und seiner bis heute geächteten Appeasement-Politik. Tatsächlich tobte Hitler nach dem Münchner Abkommen, als er erkannte, dass ihm die Westmächte zugestanden, welche Gebiete er annektieren durfte. London und Paris setzten im Umgang mit dem Diktator auf eine Doppelstrategie aus containment (Eindämmung) und deterrence (Abschreckung) – wie sie übrigens die USA nach dem Krieg gegen die Sowjetunion verfolgten.

Ausführlich befasst sich Overy mit der Flüchtlingsfrage. Zur Abwechslung kommt die angeblich hartherzige Schweiz bei ihm ungeschoren davon. Vielmehr schildert er, wie Amerikaner und Briten die Einwanderung deutscher Juden streng quotierten. Mehr als ein Jahr lang wurde die Einreise völlig ausgesetzt, und wer es schaffte, wurde als «feindlicher Ausländer» interniert. Noch schlimmer erging es Juden, die ins britische Mandatsgebiet Palästina flüchteten. In einem krassen Fall wurden sie nackt und ohne Habe zurück auf Schiffe geprügelt, die Kurs auf die britische Kolonie Mauritius nahmen, wo sie in Lager gesperrt wurden; vierzig Deportierte überlebten die Überfahrt nicht. Zynisch kommentierte Sir John Shuckleburgh vom Kolonialministerium: «Juden haben keinen Sinn für Humor und kein Gespür für Verhältnismässigkeit.»

Erschreckend sind die Parallelen zur Gegenwart, etwa bei der Rechtfertigung des Krieges. In Europa hatten die Alliierten zu Beginn ein Problem mit dem Argument der Selbstverteidigung, denn sie waren ja nicht angegriffen worden. Sie hatten Berlin den Krieg erklärt, nicht umgekehrt. Entsprechend stark musste man Zweck und Ziel des Krieges überhöhen – zu einem Endkampf zwischen Diktatur und Demokratie, Gut und Böse. Ein Muster, das sich bei jedem Krieg der USA und der Nato der letzten fünfzig Jahre wiederfindet, zuletzt wieder im aktuellen Ukraine-Konflikt. Als Chamberlain im Radio die Kriegserklärung verlas, verkündete er einen Kampf «gegen das Böse». Er sei «sicher, dass sich das Gute durchsetzen wird». Präsident Franklin Roosevelt sprach beim Kriegseintritt der Vereinigten Staaten gar von einer «Reinigung der Welt von uralten Übeln und Krankheiten».

Erschreckend sind die Parallelen zur Gegenwart, etwa bei der Rechtfertigung des Krieges.Dieser moralische Grundton war umso nötiger, so Overy, weil er vom unmoralischen Verhalten der imperialen Machthaber in London und Paris ablenken musste. «Die Realität sah 1939 so aus, dass Grossbritannien und Frankreich nicht nur zur Verteidigung des demokratischen Mutterlandes, sondern auch für den Erhalt des jeweiligen Imperiums in den Krieg zogen», beschreibt er diese «unpassende Doppelmoral». Die Propaganda der Achsenmächte stiess mit Vergnügen in diese offene Wunde. So wunderte man sich in Japan, warum eigentlich die britische Herrschaft über Indien gerechtfertigt sei, die eigene über China aber nicht.

Diese Doppelmoral überlebte das Kriegsende. Winston Churchill, der vermeintliche Ausnahmepolitiker, war zeit seines Lebens davon überzeugt, dass das Empire nie untergehen werde. Der britische Historiker Hugh Seton-Watson beklagte noch in den 1950er Jahren die Entkolonialisierung Afrikas als «Rückfall in die Barbarei»: Die Europäer würden durch «die Ziege, den Affen und den Dschungel ersetzt».

Obwohl Japan in Asien grosse Teile der europäischen Imperien überrannt hatte, obwohl der Krieg die Unabhängigkeitsbewegung in Indien gestärkt hatte, wurde in die Charta der neuen Vereinten Nationen der Passus aufgenommen, dass «Kolonialherrschaft eine innere Angelegenheit» sei, in die sich niemand einmischen dürfe. Frankreich, Britannien, Belgien, die Niederlande hatten sich durchgesetzt.

Diese vier Staaten führten noch zwei Jahrzehnte lang blutige Gefechte um ihre Imperien: Frankreich in Indochina und Algerien, Grossbritannien in Malaysia, Aden und Kenia, die Niederlande in Indonesien. Den Anfang vom endgültigen Ende dieses langen, langen Krieges markierte die Suezkrise 1956, als die USA (im geheimen Einverständnis mit der Sowjetunion) die gerupften und zahnlosen alten Grossmächte en passant stoppten.