Wer sagt, dass er aus München sei, kann sicher sein, beim Gegenüber sofort eine Assoziationskette zum Rasseln zu bringen: Oktoberfest – Bier – und Schwabing! Um Münchens berühmtesten Stadtteil, um Schwabing, ranken sich Mythen und Legenden. Meist stammen sie aus Schwabings goldener Ära um 1900. Diese grosse Zeit ist (wie andere grosse Zeiten, die Schwabing danach noch erlebte) längst verblasst.

Aber die Vergangenheit wirkt hier immer noch. Grosse Namen wie Thomas Mann, Wassily Kandinsky, Lenin oder auch später Bernd Eichinger, Uschi Obermaier oder Helmut Dietl adeln in diesem Stadtteil Gentrifizierung und Luxussanierung; sie werden in den Quadratmeterpreis der Jugendstilwohnungen eingerechnet und in der Lyrik der Makler-Exposés erwähnt. Diese Namen sind ein Teil des Mythos Schwabing.

Wie kam es dazu?

Nach Ende des Krieges gegen Frankreich, 1871, hatte der wirtschaftliche Aufschwung auch die bis dahin stille bayerische Residenzstadt München erfasst. Die Einwohnerzahl, ehemals 100 000, hatte sich in wenigen Jahren vervierfacht. 1890 wird Schwabing, ein kleines, unbedeutendes Dorf nördlich von München, eingemeindet.

 

Exzentrisch und selbstbewusst

Im Bauboom entstehen nun in diesem neuen Stadtteil Schulen, Kirchen, das damals grösste Krankenhaus Deutschlands und natürlich Wohnhäuser, viele mit Ateliers in den obersten Stockwerken. Vorbild: das Quartier latin in Paris. Künstler zieht es jetzt nach Schwabing, hier ist es billiger als in Paris, freier als in Berlin mit seinen preussischen Normen der wilhelminischen Gesellschaft, und die Kunstakademie ist nicht weit entfernt in der Maxvorstadt, dem südlichen Nachbarviertel Schwabings. Also, auf in die Moderne!

Literaten und Lyriker wie Lion Feuchtwanger, Erich Mühsam, Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Oskar Maria Graf prägen das Viertel. Die Maler Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee, August Macke, Gabriele Münter leben hier; ein paar von ihnen gründen die Künstlervereinigung «Der Blaue Reiter», und weitere Maler wie Alfred Kubin und Giorgio de Chirico ziehen nach Schwabing.

1896 werden hier zwei bedeutende Zeitschriften gegründet: der bissig-böse Simplicissimus nach dem Vorbild französischer Blätter wie Le Rire. Sein Chefredaktor: Frank Wedekind. Die andere Zeitschrift heisst schlicht Jugend – und ist namensgebend für den Jugendstil.

1890 wird Schwabing, ein kleines, unbedeutendes Dorf nördlich von München, eingemeindet. Schwabing, das ist um die Jahrhundertwende neben Paris das Künstlermekka der Avantgarde. Kandinsky malt hier das erste abstrakte Bild der Welt und schreibt über seine Wahlheimat, dass in diesem «etwas komischen, ziemlich exzentrischen und selbstbewussten Schwabing ein Mensch ohne Palette oder ohne Leinwand oder zumindest ohne eine Mappe sofort auffiel». Selbst Pablo Picasso ist sich sicher, dass man Kunst eigentlich nur in «Munick» studieren könne.

«Gschlamperte Malerweiber» wie Münter und «Emanzen» wie die Schriftstellerin Franziska von Reventlow, die die freie Liebe propagiert, gehören zum Studium dazu. Mit ihrer adeligen Familie hatte sich die «Schwabinger Gräfin» überworfen. Nun führte sie seit 1897 ein wildes Leben in München und setzte der Künstlerszene mit ihrem Roman «Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil» ein literarisches Denkmal. Von ihr stammt das Bonmot, Schwabing sei «ein Zustand und kein Ort».

Das «Wahnmoching» (von Reventlow) der Jahrhundertwende ist tatsächlich eine «Massensiedlung von Sonderlingen». Sie sind auf der Suche nach Freiheit, nach Leben jenseits des Konventionellen und Konformistischen, sie sind die «Schwabinger Bohème». Dazu gehören «Maler, Bildhauer, Dichter, Modelle, Nichtstuer, Philosophen, Religionsstifter, Umstürzler, Erneuerer, Sexualethiker, Psychoanalytiker, Musiker, Architekten, Kunstgewerblerinnen, entlaufene höhere Töchter, ewige Stundenten, Fleissige und Faule, Lebensgierige und Lebensmüde, Wildgelockte und adrett Gescheitelte», so der Schriftsteller Erich Mühsam in seinen «Unpolitischen Erinnerungen»; seit 1909 lebte er in Schwabing.

 

Schluss mit lustig

Andere bleiben auch hier «adrett gescheitelte» Exoten, ringen um Form, zumindest, was Stil und Kleidung angeht, wie die Dichter Stefan George und Thomas Mann. Für Mann gipfelte dieser «seltsame Stadtteil» 1902 in seiner Erzählung «Gladius Dei» mit der Feststellung: «München leuchtete.» In Schwabing wechselte er so oft die Wohnung, dass man ihn heute des Mietnomadentums verdächtigen dürfte. Von der Schwabinger Bohème allerdings distanzierte er sich, im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich, deutlich: «Ich bin ein Mensch von Erziehung, ich trage saubere Wäsche und einen heilen Anzug und finde schlechterdings keine Lust dabei, mit ungepflegten jungen Leuten an absinthklebrigen Tischen anarchistische Gespräche zu führen.»

Im Jahr 1900 hatte Thomas Mann in Schwabings Feilitzschstrasse 5 seinen Roman «Buddenbrooks» vollendet. Es ist dasselbe Jahr, in dem sich ein russischer Exilant mit spitzem Bart namens Wladimir Uljanow unter dem nicht sehr fantasievollen Pseudonym «Meier» ein möbliertes Hinterhauszimmer in der Schwabinger Kaiserstrasse 46 mietet. Dieser Mann fühlt sich allerdings sehr wohl bei «anarchistischen Gesprächen an absinthverklebten Tischen», er will das Zarenreich stürzen und nennt sich hier im Münchner Künstlerviertel erstmals Lenin.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist dann erst mal Schluss mit lustig; Schluss mit den Lustbarkeiten einer intellektuellen Anarchie und eines gelebten Irrationalismus. Ausländische Künstler müssen das Land verlassen, andere, wie Franz Marc, sind gefallen, die Literaturszene ist auseinandergebrochen. Dieser seltsame Österreicher aber, der seine gemalten Postkarten schon 1912 (mit meist mässigem Erfolg) in Schwabinger Künstlerkneipen anbot, er ist wieder da und schwingt jetzt im Bierdunst Reden: Adolf Hitler.

München wird nun zur «Hauptstadt der Bewegung»; und sehr oft muss sich Hitler selbst bewegen, nämlich in das Haus der Schwabinger Ainmillerstrasse 33, denn dort wohnt Rudolf Hess, sein Kamerad der ersten NSDAP-Stunden. Dass Jahrzehnte später genau in demselben Haus Helmut Dietl seine grosse Filmkomödie «Schtonk» schreibt, ist ein Beispiel für die Ironie des Lebens und für dieses Schwabing, in dem ein nahezu beispielloser Reichtum an Geschichte und Geschichten auf wenigen Quadratkilometern eng miteinander verwoben ist.

 

Futuristisch schick!

Nach dem Zweiten Weltkrieg breitet sich in Schwabing schneller als anderswo wieder ein Lebensgefühl von Freiheit aus. Die Kneipenszene beginnt in den Trümmern zu florieren. Wieder versammeln sich Literaten in diesem und in keinem anderen Stadtteil der Isarmetropole. Im Herzen von Altschwabing gründet Dieter Hildebrandt Mitte der 1950er Jahre die Lach- und Schiessgesellschaft, sie wird bald zum einflussreichsten Kabarett der jungen Bundesrepublik.

Die Schatten einer neuen Zeit werfen 1962 «Die Schwabinger Krawalle» voraus. Der Anlass tagelanger Strassenschlachten ist nichtig: Eine Musikgruppe, die zu laut war, sollte von der Polizei zum Schweigen gebracht werden. Die Schwabinger protestierten, unter ihnen der junge Tunichtgut Andreas Baader, der später die Terrorgruppe Rote Armee Fraktion gründen wird. Der alte anarchistische Künstlercharakter dieses Stadtteils kommt damals noch einmal zum Tragen. Doch bereits in den 70er und frühen 80er Jahren des längst vergangenen 20. Jahrhunderts beginnt langsam der Abstieg Schwabings: Die «Kreativszene» wandert in andere Stadtteile ab, meist nach Haidhausen. Schwabing wird jetzt nämlich teuer und «schick». Futuristisch schick!

Nach dem Krieg breitet sich schneller als anderswo wieder ein Lebensgefühl von Freiheit aus.Die 1971 eröffnete Diskothek «Yellow Submarine», untergebracht im Gebäudekomplex «Schwabylon», ist ein dreistöckiger Klub in Form einer Taucherglocke und von einem Aquarium umgeben. Durch Bullaugen konnte man 36 Haie und ein paar Riesenschildkröten sehen. Sie umschwammen die Gäste dekorativ in 650 000 Litern Meerwasser. Die neue Serie «Schickeria» auf Amazon Prime ist höchst sehenswert: Sie widmet sich eingehend solch legendärer und singulärer Schwabinger Vergnügungsstätten wie ebendieser «Haifischdisco» oder jenem «Blow up», einem riesigen Nachtklub der Flower-Power-Ära von 1967. Er galt als Vorläufer und Vorbild des ein Jahrzehnt später in New York eröffneten «Studio 54».

Mit den Tempeln der Lustbarkeiten steigen in den 70er Jahren die Preise. Längst lassen die Kneipen nicht mehr «jeden» rein. Nicht umsonst singt die Spider Murphy Gang 1981 sehr treffend: «Ja, in Schwabing gibt’s a Kneipn, die muass ganz was bsondres sei, da lassns solche Leit wie di und mi erst gar ned nei. In d’Schickeria, in d’Schickeria.»

 

«In ist, wer drin ist»

Bei Helmut Dietl, der die meiste Zeit seines Lebens in Schwabing verbrachte, kulminiert dieses Lebensgefühl einer selbsternannten Schickeria in dem Bonmot: «In ist, wer drin ist.» In den frühen 80er Jahren entsteht Dietls Fernsehserie «Monaco Franze»: Franz Münchinger, genannt Monaco Franze, ewiger Stenz und Flaneur, ein Vorstadt-Casanova mit Dackelblick, lebt natürlich in Schwabing. Hier flirtet er mit den feschen, kurzberockten, engbehosten Madln in den Eiscafés der Leopoldstrasse, oder er picknickt mit ihnen im nahen Englischen Garten, denn: «A bissel was geht immer.»

Mit diesen grandiosen, zutiefst melancholischen und liebevoll gezeichneten Milieustudien hat Helmut Dietl Schwabing zweifellos ein Denkmal gesetzt. Es ist aber auch das letzte Denkmal, das diesem «Zustand» namens Schwabing gerecht wird. Denn, was ist Schwabing heute?

 

Im wehenden Kaschmirmantel

Wo sind heute «die Sonderlinge» in diesem legendären Stadtteil? Sie, die markanten Schwabinger, die man in den Strassen traf? Die meisten sind tot: der Filmproduzent Eichinger aus dem Café «Capri», der immer in wallendes Weiss gekleidete Dietl, die Schauspielerin Barbara Rudnik, der weltberühmte Lampen-Designer Ingo Maurer aus der Kaiserstrasse . . . und auch Hans-Magnus Enzensberger schreitet nicht mehr in wehendem Kaschmirmantel durch den Englischen Garten.

Wer von den Sonderlingen (besser: den besonderen Menschen) nicht tot ist, der ist fortgezogen.Tot auch die reizende alte Dame vom Habsburgerplatz. Sie konnte erzählen, dass manchmal ein Autohändler aus Milwaukee an ihrer Tür klingelt, nur um ihr die Hand zu schütteln – denn das sei schliesslich die Hand, die einst «der Führer» gedrückt habe. Traudl Junge, die Sekretärin Adolf Hitlers, bemerkte, dass sie jetzt hier in Schwabing nur unweit der letzten Wohnung von Hans und Sophie Scholl wohnte. Und wer von den Sonderlingen (besser: den besonderen Menschen) nicht tot ist, der ist fortgezogen. Wie Wolf Wondratschek (klugerweise nach Wien); oder gleich nach Los Angeles wie Uschi Obermaier.

Die noch Hiergebliebenen, sie erwarten ihr Ende: Alexander Kluge schleppt sich mit 92 Jahren durch die Friedrichstrasse und manchmal in die Schweiz nach Sils Maria; die 68er-Ikone Rainer Langhans sieht man 83-jährig munter auf seinem alten, rostigen Fahrrad durch die Strassen radeln. Beim Discounter Penny kauft er ein. Die Strassencafés des einstigen Boulevards Leopoldstrasse, sie hiessen «Capri» oder «Venezia» – es gibt sie nicht mehr; sie sind Schischa-Bars oder Running-Sushi-Läden gewichen. Die urigen kleinen Kneipen und Bars mit schrägen Vögeln diesseits wie jenseits des Tresens, man findet sie jetzt eher in Giesing oder in Münchens Westend.

 

Hochburg der Grünen

In Schwabing indes sind manche Strassenzüge bis zum ersten Stock ihrer Häuser gepflastert mit Praxisschildern von Psychotherapeuten und Psychoanalytikern. Hier in Schwabing bilden diese Berufsgruppen eine der höchsten Dichten der Welt. Der Besuch beim shrink oder bei einem Coach ist für die Work-Life-Balance heutiger Schwabinger so selbstverständlich wie der Besitz einer Yoga-Matte.

Jugendstilwohnungen in luxussanierten Altbauten gibt’s (wenn überhaupt) nur zu astronomischen Miet- oder Kaufpreisen. In Schwabing zu wohnen, muss man sich leisten können – oder wohl dem Glücklichen, der noch einen uralten Mietvertrag hat. Und die sich Schwabing eben leisten können, sie sind zumeist Unternehmensberater, Anwälte oder zumindest «Top-ITler». Zur Feinjustierung ihrer Karrieren zwischen Middle- und Upper-Middle-Management eilen sie in frühen Morgenstunden mit dem Rollkoffer zum Flughafen. Jene, die bereits im Upper-Management angekommen sind, werden vom Chauffeur abgeholt.

Die Welt von 1900, als «München leuchtete», bleibt ihnen unbekannt. Die grossen Namen, derer hier an vielen Häusern mit Tafeln gedacht und erinnert wird, sie sagen den Selbstoptimierern von heute nichts. Sie wissen nur: «Hier lebte Rilke von 1918 bis 1919», diese Worte an einer alten, prachtvollen Hausfassade heben den Wert der Eigentumswohnung im Haus ungemein. In den Strassen parkieren die (meist von den Ehefrauen für die Fahrt zum Bio-Supermarkt genutzten) SUVs – wenn man sich nicht ohnehin mit dem E-Lastenfahrrad fortbewegt, wo die Kinder vorne wie kleine Prinzen herausschauen und der Golden Retriever nebenhertrabt.

Die urigen kleinen Kneipen und Bars mit schrägen Vögeln findet man jetzt in Münchens Westend.Die weitaus stärkste Partei im Stimmkreis München-Schwabing bei der Landtagswahl sind die Grünen (34,2 Prozent). Aus vielen Schwabinger Fenstern hängen Regenbogenfahnen. Natürlich gibt es hier, wo jeder Dritte die Grünen wählt, weit und breit kein Asylantenheim, und deswegen ist sie hier auch am höchsten: jene Dichte der Wohlmeinenden und Weltrettenden. Ja, weil man hier viel für die Armen der Gesellschaft übrig hat, ist es in Schwabing inzwischen üblich, seinen Sperrmüll und andere überflüssig gewordene Dinge einfach auf der Strasse zu entsorgen. Die Vermüllung des öffentlichen Raums durch wohlstandsverwahrloste Gutmenschen!

Sie glauben wirklich, sie vollbringen eine gute Tat, wenn sie ihren abgelebten Hausrat vor der Haustür abladen: kann doch vielleicht jemand gebrauchen! Helfen wir doch armen Menschen, die sich ein Ikea-Regal oder eine neue Matratze nicht leisten können, während wir auf dem Minotti-Sofa unter der Artemide-Lampe sitzen und die Füsse auf den Noguchi-Couchtisch legen. Grüne, gelebte Marie-Antoinette-Arroganz im Schwabing des Jahres 2024.

 

Glück im Englischen Garten

Und doch: Schwabing ist nicht München; und München ist nicht Deutschland. Und genau das ist der einzige Grund, hier zu leben. Es ist eben pures Glück, mit einer Brotzeit in den Englischen Garten zu radeln. Der ist eher ein Wald denn ein Park und reicht weit über Schwabing hinaus. Dort im «Biergarten am Chinesischen Turm» kann man seine Mass Hofbräubier trinken. Blasmusik spielt, der Föhn lässt die Luft oft wärmer sein als anderswo in Deutschland, und das gleissende Sonnenlicht schimmert dabei durch die Blätter der Kastanienbäume; es gibt hier Platz für 7000 Menschen, und doch ist nie Gedränge oder Enge.

Der Sozialismus bayerischer Biergärten ist der einzige Sozialismus, der funktioniert! Im Biergarten herrscht eine integrative Kraft über alle Stände, konstruierten Geschlechter, Kulturen und Gehaltsklassen hinweg. Und hier in Schwabing wird einem das Glück eines solchen Ortes ganz besonders bewusst.