Alle politischen Begriffe sind polemische Begriffe.

Carl Schmitt

 

Dresden

Nach vermutlich glaubhaften SchĂ€tzungen sollen bei Beginn der Waffenruhe in Gaza ĂŒber 14 000 PalĂ€stinenser bei den israelischen Angriffen gestorben sein, darunter viele Frauen und Kinder. TĂ€uscht mein Eindruck, oder gehen unsere Medien und Politiker mehr oder weniger stillschweigend ĂŒber diese Tatsache hinweg? Das Schweigen jedenfalls berĂŒhrt mich als Ausdruck stossender Doppelmoral. Ich kann mich gut erinnern, als unsere Journalisten, kaum hatten die Russen die Grenze zur Ukraine ĂŒberschritten, hell empört, entflammt vor Zorn von «Putins Vernichtungskrieg» berichteten.

Das war genauso unangemessen wie jetzt die ohrenbetĂ€ubende Stille ĂŒber die viel zu hohe Zahl an zivilen Opfern in Gaza. Ich schicke voraus, dass ich ebenso MĂŒhe habe mit der zum Teil gellenden Kritik an Israel, die es auch gibt, weniger in den etablierten Medien als in zahlreichen Blogs und Online-Portalen. Diese Stimmen scheinen mir auszublenden, dass es Israel mit einem perfiden Feind zu tun hat, der sich hinter der eigenen Zivilbevölkerung versteckt, um genau jene schrecklichen Bilder zu provozieren, die dann gegen Israel als Waffe im Propagandakrieg dienen sollen.

Was aber im Norden Gazas zweifellos in TrĂŒmmern liegt, ist jetzt, einmal mehr, die sogenannt «regelbasierte Ordnung» des Westens. Ich bin kein Gegner des internationalen Rechts und des Versuchs, die Wildnis zwischenstaatlicher Beziehungen juristisch zu zĂ€hmen und einzuhegen. Aber wenn man schon dauernd von «Völkerrecht» spricht, obwohl das Völkerrecht mitnichten von den Völkern gemacht wird, sondern meistens von FunktionĂ€ren oder von Politikern, dann sollte man sicherstellen, dass es auch fĂŒr alle mehr oder weniger gleich angewendet wird.

Das ist heute keineswegs der Fall. Das Völkerrecht empfinden viele, möglicherweise eine weltweite Mehrheit, als Herrschaftsinstrument der Amerikaner. Wir haben vom Ukraine-Krieg gesprochen. Hier zögerte «der Westen» keine Sekunde, den russischen PrÀsidenten schwerster Kriegsverbrechen zu bezichtigen. Der Strafgerichtshof von Den Haag erliess gegen Putin einen Haftbefehl, weil dieser ukrainische Kinder aus den von Russen besetzten Gebieten «deportieren» lasse. Die russische Seite hingegen spricht davon, sie bringe die Kinder in Sicherheit vor der ukrainischen Artillerie.

Man möge das dereinst unabhĂ€ngig aufklĂ€ren. Aber mĂŒsste Den Haag, wenn die internationale Strafgerichtsbarkeit ĂŒberall die gleichen MassstĂ€be anlegt, nicht auch Israels Regierungschef Netanjahu genauer unter die Lupe nehmen, von den Hamas-Killern gar nicht erst zu reden? Die Verschleppung von Kindern durch die Russen mag ein fĂŒrchterliches Verbrechen sein. Die brutale Tötung von Kindern durch israelische Bomben in Gaza wĂ€re dann aber wohl das noch viel schlimmere Verbrechen. Entweder gilt das internationale Strafrecht fĂŒr alle, oder es gilt nicht.

Nun kann es dem Westen und seinen WortfĂŒhrern nicht egal sein, wenn solche WidersprĂŒche unaufgelöst stehenbleiben. Der Westen, die Amerikaner, die EuropĂ€er rechtfertigen ihr Handeln ausnahmslos dadurch, dass sie sich zum GralshĂŒter internationaler rechtsstaatlicher Normen erklĂ€ren, zum Garanten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten gegen die «Despotien» und «Autokratien» des Ostens. Wo sind die Menschenrechte in Gaza? Haben die PalĂ€stinenser keine Menschenrechte? Oder beansprucht Israel fĂŒr sich ein Sonderrecht? Zweierlei Völkerrecht?

IrrefĂŒhrend ist die Behauptung, in der Ukraine habe eine «Zeitenwende» oder in Israel ein «Zivilisationsbruch» stattgefunden. Kriege und Terror sind uralte Begleiter der Menschheit. Leider. Solche Begriffe haben deshalb vor allem einen ideologischen Sinn. Sie sollen das eigene Handeln rechtfertigen und den Gegner maximal ins Unrecht setzen. Israels Regierung spricht von einem «Zivilisationsbruch», um den «Zivilisationsbrecher» umso hĂ€rter zu bestrafen, notfalls auch mit «unzivilisierten» Mitteln, denn gegen einen «Zivilisationsbrecher» ist schliesslich jedes Mittel recht.

Das ist die abschĂŒssige Bahn, auf der sich der Westen jetzt bewegt. Vielleicht ist die Kritik an Israel ausserhalb des Mainstreams auch deshalb so vehement, weil viele die Heuchelei der «regelbasierten Ordnung» und der «wertegebundenen Aussenpolitik» zusehends als unertrĂ€glich und unehrlich empfinden. Es ist auch kein Wunder, dass sich immer mehr Staaten vom «Westen» abwenden. Dahinter steckt wohl weniger die wachsende Sehnsucht nach Autokratie als vielmehr eine weitverbreitete Abneigung gegen die verlogene Arroganz westlicher Politiker.

Allerdings wĂ€re es falsch, angesichts der offensichtlichen Doppelmoral und der missbrĂ€uchlichen Beschwörung «westlicher Werte» die Vorstellung internationaler Regeln gĂ€nzlich ĂŒber den Haufen zu werfen. Der Versuch, den Raubtierdschungel der GrossmĂ€chte rechtlich einzuhegen, ist richtig. Aber man muss sich vor Augen halten, dass in der Aussenpolitik zuerst die Macht und dann erst das Recht regiert. Dank dieser Einsicht wird die Welt zwar nicht automatisch friedlicher, aber wenigstens ehrlicher. Und ohne ein Mindestmass an Ehrlichkeit gibt es kein friedliches Zusammenleben.

Die 3 Top-Kommentare zu "Zweierlei Völkerrecht"
  • loku

    Das Völkerrecht gilt, wenn es gerade passt. Die regelbasierte Weltordnung gilt immer, denn diese wird vom Westen dynamisch den eigenen Interessen angepasst. Regel 1 Der Westen hat immer Recht. Regel 2 Trifft Regel 1 einmal nicht zu, tritt automatisch Regel 1 in Kraft. Diese Arroganz setzte sich in den letzten Jahrzehnten immer durch, doch Wiederstand formiert sich zusehends. Was folgt? Weltkrieg oder Vernunft?

  • teresa.hasler

    Ich gratuliere Ihnen Herr Köppel. Sie sind wieder sich selbst geworden und bemĂŒhen sich wieder um verschiedene Sichtweisen der Geschehnisse, insbesondere auch in Bezug des Nahostkonfliktes. Die westliche Doppelmoral tritt immer hĂ€sslicher Zutage und erzeugt im sogenannt ‚amoralischen Nichtwesten‘ vermutlich nur Verachtung und Hass.

  • telegram@newsofehrmedia

    Illusion. "Völkerrecht" wurde nie fĂŒr alle gleich angewendet und wird es auch nie. Schon der Name 'Recht' ist falsch, da er suggeriert, dass irgendein legitimer Gesetzgeber diese 'Regeln und Normen' erlassen habe - was komplett falsch ist. Bei 'Völkerrecht' handelt es sich in Wahrheit um ein loses Regelwerk, das in erster Linie die VerhĂ€ltnisse zwischen Staaten regeln soll. Deren Auslegung ist immer eine Funktion der Interessen des auslegenden Staates und nicht alle Staaten sind dabei gleich.