Am 19. Juni kündigte die EU-Kommission Defizitverfahren gegen sieben Mitgliedsländer an: Frankreich, Italien, Belgien, Polen, Ungarn, die Slowakei und Malta.

Fünf Staaten – Spanien, Tschechien, Slowenien, Estland und Finnland – entgingen dem Verfahren, weil ihre Verstösse angeblich aussergewöhnlichen Umständen geschuldet oder temporär waren. Der dafür zuständige EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni will die sieben Länder unter verschärfte Aufsicht stellen, weil sie zu hohe Haushaltsdefizite aufweisen.

Es ist das erste Mal seit vier Jahren, dass Brüssel die EU-Schuldenregeln wieder anwendet, die während der Corona-Pandemie ausgesetzt blieben.

Die Maastrichter Regeln begrenzen die maximal zulässige Staatsverschuldung auf 60 Prozent und die jährliche Neuverschuldung auf maximal 3 Prozent des BIP. Diese zur Stärkung des Vertrauens in den Euro geschaffenen Fiskalregeln wurden seit Beginn, zuerst von Frankreich und Deutschland, von den meisten Euro-Ländern regelmässig verletzt.

Bis anhin gab es für Länder, die sich nicht an die Verträge hielten, keine Konsequenzen, obwohl solche in den ursprünglichen Verträgen vorgesehen waren. Der unlängst ausgehandelte revidierte Stabilitäts- und Wachstumspakt bedeutet sogar eine Aufweichung des bisherigen Disziplinierungs-Mechanismus. Dieser trat bekanntlich im April in Kraft, mit dem Ziel, die hohe Staatsverschuldung in der Euro-Zone von derzeit rund 90 Prozent deutlich zu reduzieren. Er verpflichtet EU-Mitgliedsländer, ein mittelfristiges Budget vorzulegen, mit dem das strukturelle Defizit jährlich um 0,5 Prozent des BIP reduziert werden soll. Damit sind Defizite gemeint, die ohne Berücksichtigung der Konjunktur anfallen.

2023 haben Frankreich und Italien mit Staatsdefiziten von 5,5 Prozent beziehungsweise 7,4 Prozent erneut in gröbster Art und Weise gegen die Abmachungen verstossen. Die EU-Finanzminister sollen deshalb im Juli über den Bericht der Kommission beraten und entscheiden, ob die Defizitverfahren gegen die sieben Staaten eröffnet werden. Verzichten sie darauf, wird die Glaubwürdigkeit der Kommission wohl endgültig begraben.

Aber die EU-Elite wacht glücklicherweise nicht exklusiv über Staatsfinanzen. Auch die Kapitalmärkte setzen der Politik Grenzen, indem die Investoren für disziplinloses Fiskalverhalten höhere Risikoprämien für Staatsanleihen einfordern. Früher oder später wird dann aber wohl auch die Zeit kommen, wenn Bond-Aktivisten («Bond Vigilantes») sich zusammenschliessen und massenweise Staatsanleihen verkaufen oder sogar leerverkaufen, um die Regierungen zu einem Kurswechsel zu zwingen.

Solche Massenverkäufe gab es auch schon in den letzten Jahrzehnten. Aus solchen gezielten Attacken, die oft auch von Hedge-Fonds ausgehen, können regelrechte Finanzkrisen entstehen. In den neunziger Jahren, in der Amtszeit von Präsident Clinton (20. Januar 1993 bis 2001), wurde die Rendite innerhalb eines Jahres von Oktober 1993 bis November 1994 von 5,33 Prozent auf 7,97 Prozent um 2,63 Prozentpunkte in die Höhe getrieben.

Ironie der Geschichte: Bill Clinton war der letzte US-Präsident, dem es gelang, Budget-Überschüsse zu erzielen. In den Jahren 1998 bis 2001 resultierte ein Überschuss von 559 Milliarden US-Dollar. Die letzten Präsidenten vor Clinton, die Überschüsse erzielten, waren im Jahr 1960 Dwight D. Eisenhower mit 300 Millionen US-Dollar und in den Nachkriegsjahren Harry S. Truman in den Jahren 1947 bis 1949 mit einem Plus von 15,4 Milliarden.

Auch während der von Griechenland ausgelösten Staatsfinanzkrise 2010 kam es innert weniger Monate zu massiven Zinserhöhungen. Die Renditen der PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) haben sich innert Jahresfrist meist mehr als verdoppelt. Seither ist es mit solchen Angriffen am Anleihenmarkt ruhiger geworden, denn selbst Hedge-Fonds haben Beisshemmungen, wenn es darum geht, gegen Notenbanken anzutreten, die massiv mit Käufen von Staatsanleihen in den Markt eingriffen.

Aber diese Ruhe könnte bald ein Ende finden, denn die Aufnahmefähigkeit der Investoren wird mit wachsenden Staatsschulden nach und nach versiegen. Wie rasch sich die Stimmung ändern kann, musste die britische Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss (6. September 2022 bis 24. Oktober 2022) erfahren. Als sie in die Fussstapfen von Margaret Thatcher treten wollte und Steuersenkungen ohne Gegenfinanzierung ankündigte, schossen die Renditen innert weniger Tage massiv in die Höhe. Noch zehn Tage vor ihrer Amtseinsetzung lag die Rendite der zehnjährigen Gilts bei 2,6 Prozent, im Höhepunkt während ihrer kurzen Regentschaft bei 4,5 Prozent (27. September).

Wenn es die EU-Kommission nicht schafft, Ordnung und Disziplin herzustellen, dann wird der Markt früher oder später auf brutalere Weise die notwendigen Korrekturen herbeiführen. Es wäre fahrlässig, darauf zu vertrauen, dass die Notenbanken in jedem Falle erneut im erlebten Ausmass eingreifen würden, denn die gewaltige Expansion der Geldmenge der letzten Jahre war mitverantwortlich für den immer noch nicht bewältigten Inflationsschub.

Es ist eine Falschaussage, zu behaupten, der Markt habe in der Finanzkrise 2008 und während der Staatsfinanzkrise 2010 nicht funktioniert. Das Gegenteil war der Fall. Er hat die Exzesse korrigiert. Die Politik wolle aber die Folgen nicht mittragen, weshalb sie Steuergelder en masse verschleuderte.