Begonnen hat alles im Jahr 1990, als die Sowjetunion in den letzten Zügen lag und westliche Staatsmänner eine Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland unter der Schirmherrschaft der Nato anstrebten. Eine Voraussetzung dafür war, dass Moskau zum Abzug seiner rund 400 000 Soldaten aus der DDR bereit war. Zur Beschwichtigung Moskaus gaben westliche Regierungen zu verstehen, dass die Nato nicht nach Osten in Richtung der russischen Grenze expandieren würde.

Laut einer Analyse des National Security Archive an der George Washington University, wo entsprechende freigegebene Dokumente aufbewahrt werden, «[haben] westliche Staatschefs während des deutschen Wiedervereinigungsprozesses im Jahr 1990 und bis ins Jahr 1991 hinein Gorbatschow und anderen sowjetischen Funktionären eine Fülle von Zusicherungen hinsichtlich der sowjetischen Sicherheit gemacht». Diese Zusicherungen betrafen nicht nur die Frage der Nato-Erweiterung auf das Gebiet der ehemaligen DDR, wie manchmal behauptet wird, sondern auch die Ausweitung der Nato auf die osteuropäischen Länder. Dennoch begann die Nato innerhalb weniger Jahre, sich in Richtung der russischen Grenze auszudehnen. Auch wenn diese Zusicherungen nicht in formelle Verträge gegossen wurden, waren «spätere sowjetische und russische Beschwerden, hinsichtlich der Nato-Erweiterung in die Irre geführt worden zu sein», nicht einfach nur russische Propaganda, sondern stützten sich vielmehr «auf zeitgleiche schriftliche [Memoranden] auf höchster Ebene» der westlichen Regierungen.5

Joshua R. Shifrinson kam zu einer ähnlichen Schlussfolgerung in der Zeitschrift International Security. Er sieht es als bewiesen an, dass «die Vereinigten Staaten die Sowjetunion in die Irre geführt» und gegen die Inhalte der Verhandlungen verstossen haben.6 In einem Interview am Belfer Center der Harvard Kennedy School beschrieb Shifrinson seine Archivrecherchen so:

«Ich konnte mir parallel anschauen, was man den Sowjets ins Gesicht sagte und was man sich in den USA in den Hinterzimmern erzählte. Viele der Russen [. . .] haben wiederholt behauptet, dass die USA 1990 der Nichterweiterung informell zugesagt hätten. Und in den letzten 25 Jahren haben westliche Politiker, zumindest in den USA, eindeutig gesagt: ‹Nein, das haben wir nicht. Es wurde nichts schriftlich festgehalten und nichts unterschrieben, also ist es irrelevant, ob [wir] das getan haben.› Aus dem, was ich [in den Archiven] gefunden habe, erschliesst sich mir, dass das russische Narrativ im Prinzip genau den tatsächlichen Ereignissen entspricht.»7

Ich will durch die Schilderung dieses Vorfalls nicht behaupten, dass die westlichen Zusicherungen rechtsverbindlich gewesen seien oder deren Nichteinhaltung den Einmarsch Russlands in die Ukraine vollständig erklärt. Tatsächlich sind die amerikanischen, europäischen und sowjetischen Gespräche der Jahre 1990 und 1991 über die Nato-Erweiterung Gegenstand aktueller Debatten.8 Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass der Westen versuchte, Moskau bewusst zu täuschen, und dass durch diese Situation auf russischer Seite das Gefühl entstand, man könne der Nato und insbesondere den USA nicht trauen.

«Das russische Narrativ entspricht im Prinzip den Ereignissen.»

Obwohl bereits Mitte der 1990er Jahre die weitere Entwicklung der Nato-Erweiterung klarwurde, erfolgte der erste entscheidende Schritt 1999, als die Nato drei osteuropäische Staaten formell aufnahm. In einem kürzlich veröffentlichten Interview kommentierte der Oberst der US-Armee (a. D.) Douglas Macgregor, Ph. D., ein bekannter Kommandant im Irak, der an der Ausarbeitung der amerikanischen Kriegspläne für Europa beteiligt war, die Aufnahme eines dieser Länder wie folgt:

«Als wir 1999 beschlossen, Polen aufzunehmen, [. . .] machten sich die Russen grosse Sorgen – nicht so sehr, weil die Nato damals feindlich gesinnt war, sondern weil sie wussten, dass Polen es war. Polen blickt auf eine lange Geschichte der Feindseligkeit gegenüber Russland zurück [. . .]. Polen war zu diesem Zeitpunkt sozusagen ein potenzieller Katalysator für einen Krieg mit Russland.»9

Im Jahr 2001, zwei Jahre nach der Aufnahme dieser ersten Gruppe neuer Nato-Mitglieder, trat US-Präsident George W. Bush einseitig vom ABM-Vertrag (Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen) zurück. 2004 nahm die Nato dann weitere osteuropäische Staaten wie Rumänien und das an Russland grenzende Estland auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Nato bereits beinahe 1500 Kilometer in Richtung Russland ausgedehnt.

Beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest gab die Nato im sogenannten Bukarester Memorandum bekannt, dass sie die Ukraine und Georgien als Mitgliederstaaten aufnehmen wolle. Beide Länder grenzen an Russland. Einige europäische Nato-Mitglieder hatten ernsthafte Vorbehalte, doch die Regierung von Präsident George W. Bush nutzte die Position der USA als ranghöchstes Mitglied des Bündnisses, das Thema voranzutreiben. Folgende unmissverständliche Erklärung wurde in das Memorandum aufgenommen: «Wir sind heute übereingekommen, dass diese Länder [die Ukraine und Georgien] Mitglieder der Nato werden.» Es wurden jedoch keine formellen Schritte zur tatsächlichen Aufnahme dieser Länder ergriffen.

Der mögliche Beitritt der Ukraine und Georgiens stellte für Russland von Anfang an eine existenzielle Bedrohung dar. Die Ukraine teilt eine beinahe 2000 Kilometer lange Landgrenze mit Russland, die stellenweise nur 600 Kilometer von Moskau entfernt ist. Im Jahr 2008 sandte der heutige CIA-Direktor William J. Burns, damals US-Botschafter in Russland, ein Telegramm nach Washington, in dem er ein Treffen mit dem russischen Aussenminister beschrieb. Er merkte darin an, dass der Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens für Russland eine rote Linie darstellt, die nicht überschritten werden darf. Diese Einschätzung schlug sich auch in der Überschrift des Telegramms nieder: «Nyet means Nyet [Nein heisst Nein]: Russlands rote Linien bei der Nato-Erweiterung.» Burns schrieb damals: «Russland sieht dies nicht nur als eine Einkreisung und als ein Bestreben, Russlands Einfluss in der Region zu untergraben, sondern fürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierbare Folgen, durch welche russische Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigt werden würden.»10

Vor dem Staatsstreich suchten die USA nach einem Präsidenten.

Im August 2008, vier Monate nach der Ankündigung der Nato bezüglich der Ukraine und Georgien, marschierte die russische Armee in Georgien ein und begann einen kurzen Krieg mit den georgischen Streitkräften (als «Kaukasischer Fünftagekrieg» oder «Georgienkrieg» bekannt). Der Auslöser für den Einmarsch Russlands war, dass das – von den USA finanzierte, bewaffnete und ausgebildete – georgische Militär einen massiven vierzehnstündigen Artillerie- und Raketenangriff auf ein halbautonomes georgisches Gebiet (Südossetien) unternommen hatte. Dieses Gebiet grenzt an Russland und unterhält enge Beziehungen dorthin. Es ist bemerkenswert, dass der Angriff nur wenige Tage nach einer Militärübung stattfand, welche die USA mit 2000 Soldaten in Georgien durchgeführt hatten. Offizielle amerikanische Stellen und die US-Medien haben den russischen Einmarsch zuweilen fälschlicherweise als grundlose Invasion beschrieben.11

Abgesehen von der unmittelbaren Provokation durch den georgischen Angriff war das Vorgehen Russlands eher eine Reaktion auf das Vordringen westlicher Streitkräfte – insbesondere der von den USA angeführten Nato – an seine Grenze. Wie Oberst Macgregor später erklärt: ›››

«Die Russen griffen schliesslich in Georgien ein, und der alleinige Zweck dieser Intervention bestand darin, uns [den USA] zu signalisieren, dass Russland kein Nato-Mitglied an seinen Grenzen duldet, vor allem kein Mitglied, welches ihm gegenüber feindlich gesinnt ist, was die georgische Regierung zu diesem Zeitpunkt war. Womit wir es also jetzt zu tun haben [der Krieg in der Ukraine], ist meiner Meinung nach genau das, was Botschafter Burns befürchtete, als er erklärte, ‹Nein heisst Nein›.»12

Ende 2013 und Anfang 2014 fanden auf dem Kiewer Maidan («Unabhängigkeitsplatz») regierungsfeindliche Proteste statt. Diese von den USA unterstützten Proteste wurden von gewalttätigen Provokateuren untergraben. Die Gewalt kulminierte schliesslich in einem Staatsstreich. Bei diesem übernahmen bewaffnete, rechtsextreme ukrainische Ultranationalisten Regierungsgebäude und zwangen den demokratisch gewählten prorussischen Präsidenten zur Flucht ins Ausland. John Mearsheimer, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Chicago, beschrieb die Folgen so: «Die neue Regierung in Kiew war durch und durch prowestlich und antirussisch, und ihr gehörten vier hochrangige Mitglieder an, die zu Recht als Neofaschisten bezeichnet werden konnten.»13

Die USA spielten bei diesen Ereignissen eine Rolle, auch wenn das volle Ausmass ihrer Beteiligung und die Frage, ob sie die Gewalt direkt geschürt haben, möglicherweise nie vollständig öffentlich geklärt werden. Fest steht jedenfalls, dass die USA seit 1991 fünf Milliarden US-Dollar in von ihnen ausgewählte prodemokratische Organisationen in der Ukraine gesteckt haben,14 und dass sie schon einen Monat vor dem Staatsstreich hinter den Kulissen nach einem Nachfolger für den amtierenden Präsidenten gesucht haben. Letzteres wurde bekannt, als ein Telefongespräch zwischen der stellvertretenden US-Aussenministerin Victoria Nuland und dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, abgehört oder geleakt und anschliessend online veröffentlicht wurde. Im Laufe des Gesprächs verwendete Nuland einen derben Ausdruck in Bezug auf die EU, was zu Spannungen zwischen Washington und europäischen Hauptstädten führte.15 Wie Stephen F. Cohen, der mittlerweile verstorbene berühmte Professor für Russistik an der Princeton University und der New York University, feststellte:

«Wie vorherzusehen war, konzentrierten sich die Medien auf die Quelle des Leaks und auf Nulands verbale Entgleisung – «Fuck the EU» [Scheiss auf die EU]. Die wichtigste Enthüllung war jedoch, dass hochrangige US-Funktionäre insgeheim geplant hatten, durch den Sturz oder eine Neutralisierung des demokratisch gewählten Präsidenten des Landes eine neue, antirussische Regierung ins Amt zu bringen [. . .].»16

Egal, welche Rolle die USA dabei spielten, ging Russland zu Recht davon aus, dass die Amerikaner tief verstrickt waren – auf jeden Fall dabei, die Grundlage für den Staatsstreich vorzubereiten, und möglicherweise auch dabei, Gewalt zu schüren. Russland annektierte die Krim als Gegenantwort darauf – und zum Teil aus der begründeten Sorge, dass die nach dem Staatsstreich eingesetzte Regierung beziehungsweise ihre westlichen Partner Russland den Zugang zu seinem wichtigen eisfreien Flottenstützpunkt in Sewastopol auf der Krim verwehren könnten, über dessen Nutzung Russland zuvor verhandelt hatte. John Mearsheimer schreibt:

«Laut dem ehemaligen Botschafter in Moskau, Michael McFaul, war die Annexion der Krim durch Putin nicht von langer Hand geplant: Es war ein impulsiver Schritt als Reaktion auf den Staatsstreich, welcher den prorussischen Präsidenten der Ukraine stürzte. Tatsächlich bestand bis dahin das Ziel der Nato-Erweiterung darin, ganz Europa in eine riesige Friedenszone zu verwandeln, und nicht [darin], ein gefährliches Russland einzudämmen. Bei Ausbruch der Krise [auf der Krim] konnten die amerikanischen und die europäischen Politiker jedoch nicht zugeben, dass sie diese durch den Versuch, die Ukraine in den Westen zu integrieren, provoziert hatten. Sie erklärten Russlands Revanchismus und seinen Wunsch, die Ukraine zu dominieren oder gar zu erobern, zur wahren Ursache des Problems.»17

Die 3 Top-Kommentare zu "1. Westliche Provokationen: 1990-2014"
  • Mad Maxl

    Man sollte sich diesen Artikel genau durchlesen um zu Verstehen warum es zum "unnötigen" Krieg in der Ukraine kam und wer ihn angezettelt hat ! Wahre Fakten und Hintergründe sind Grundlagen für einen guten Journalismus, den es leider nur noch selten gibt. Ich würde mir wünschen das der Ukraine-Krieg auf solchen Grundlagen in den ÖR Medien diskutiert wird. Jeder Bürger sollte wissen warum es zu diesem Desaster kam und wer dafür Verantwortlich ist.

  • Bischi49

    Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts war die NATO im Grunde genommen obsolet und hätte einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur Platz machen müssen, unter Einbezug Russlands. Aber die NATO war damals schon, und ist heute noch mehr, ein Vehikel der US-amerikanischen Hegemonialstrebens. Die klassische Frage „cui bono“ führt auch beim Ukrainekrieg auf dessen Quelle. Man kann in diesem Zusammenhang auch sagen: „Folge der Spur des Geldes“.

  • Meinrad Odermatt

    Die niederträchtige Verlogenheit der US-Geostrategen lässt sich auch an folgender Aussage ablesen: Ja, diese Versprechungen wurden gemacht. Aber sie wurden an die Sowjetunion abgegeben. Mit der Auflösung dieser wurden sie hinfällig!