Ja, klar, wir Schweizer sind selbstkritisch, hinterfragen alles und jedes, meistens uns selbst. Stolz, so etwas wie Freude an der Schweiz empfinden wir heimlich, still, eine verbotene Freude, die man uns von Kindesbeinen an abtrainiert.

Ich erinnere mich noch ans Positive: Im Primarunterricht erzählte uns die Lehrerin von den grossen Schlachten, Morgarten, Sempach, Winkelried. Es gab Besuche im Landesmuseum, auf der Kyburg, Waffenkammern, die ewige Faszination der Ritterrüstung.

Irgendwann war fertig. Dann drehte der Zeitgeist, es muss in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gewesen sein. Als wir im Turnunterricht ein Schwertduell aus der Nibelungensaga nachspielten, intervenierte die Instruktorin: Es gebe schon «zu viele Kriegli» auf dieser Welt.

Fortan wurden wir auf Pazifismus getrimmt. Patriotismus; Militär, Landesverteidigung war gestern. Die Schweizkritiker bekamen Oberwasser. Wer etwas sein wollte, putzte sich an der Schweiz die Schuhe ab. Applaus garantiert.

In der Mittelschule trieb man uns die heimelige, natürliche, vielleicht angeborene Heimatliebe, ein vielleicht zu starkes Wort, unser gefühltes intuitives Wohlwollen für die Schweiz richtiggehend aus: die Schweiz, ein Missverständnis der Weltgeschichte, ein Betriebsunfall des Zufalls, auf keinen Fall ein Grund zum Stolzsein, eher zum Schämen.

Pädagogisch aufgenötigt im Unterricht wurde uns das neue Hochgefühl der Schweizverdrossenheit, der Schweizscham, die man wie ein Schwimmabzeichen der besseren Gesinnung vor sich hertrug.

Die Uni vollendete dann die Formatierung unserer Gehirne. Wir wurden auf Internationalismus gespurt, Nationalstaaten sind des Teufels, die Europäische Union ist das Paradies, eine Welt ohne Grenzen, alles andere galt als kleinkariert, als gestrig, muffig, übelriechend.

Meine Rettung waren, reiner Zufall, die Briten, Adam Smith und David Hume, dann Edmund Burke, die Liberalen, die Konservativen, die Geschichte nicht als Weltgericht beschrieben, sondern als Sammelsurium von faszinierenden Gestalten und Ereignissen. Von dort auch die Einsicht: Bevor man urteilt, sollte man versuchen zu verstehen.

Die Schweiz ist nicht nur ein Sonderfall, sie ist die Ausnahme, eine Provokation der Freiheit.

Die Angelsachsen befreiten, deblockierten meinen Blick auch auf die Schweiz. All die Gedanken, die bei uns an der Uni, später dann im Journalismus verpönt, verboten waren, durften auf einmal wieder gedacht und abgewogen werden. Frischluft fürs Hirn. Meine Schlussfolgerung lautete damals: Die Schweiz ist interessant. Viel interessanter, als unsere Schulen uns glauben machen wollen.

Seit dieser Erkenntnis geht es mir besser. Im Wortsinn. Es ist, als ob sich eine Verspannung, ein verhärteter Muskel im Gehirn entkrampft, gelöst hätte.

Wir brauchen wieder mehr Heimatliebe, mehr Patriotismus, mehr Wohlwollen für die Schweiz in der Schweiz, vor allem an unseren Schulen. Wie wollen wir von den Zehntausenden von Ausländern, die jährlich einwandern, erwarten, dass sie sich assimilationseifrig auf die Schweiz einlassen, wo wir doch selber im Begriff sind, zu vergessen, was die Schweiz ist und wie sie zu dem wurde, was sie ist.

Die Schweiz ist ein faszinierender Forschungsgegenstand, etwas Lebendiges, Einzigartiges, das auf verschlungenen, wundersamen und, ja, wie alles Menschengemachte auch auf etwas schiefen Bahnen in der Gegenwart ankam. Ich bin gegen Verklärung und hurrapatriotische Selbstbenebelung, aber wir müssen unseren Kindern wieder die schöne Möglichkeit eröffnen, in der Schule zu erfahren, warum die Schweiz (gegen jede Wahrscheinlichkeit) zu einer der erfolgreichsten Selbsthilfeorganisationen der Welt werden konnte, zu einer Insel von Freiheit, Wohlstand und direkter Demokratie.

Heute vermisse ich den Schweiz-Unterricht, den ich kaum hatte. Ich erwischte eine Überdosis Schweizkritik. Die linken Historiker, die in den siebziger und achtziger Jahren kamen, haben ihre Verdienste. Sie korrigierten das zu einseitige Heldengemälde und brachten die Debatte darüber in Gang.

Aber wie alles, was der Mensch erfolgreich macht, ging auch dieses Projekt an seiner Übertreibung zugrunde. Und an seiner Versteinerung. Zu viel Moralismus ist im Spiel, auch hier. Die Schweizkritik automatisierte sich zur Pose, zur Weigerung, dem Land, seinen Bewohnern und seiner Geschichte in den jeweiligen Zeitumständen gerecht zu werden. Die Schweiz ist interessant. Sie ist sogar unglaublich faszinierend. Man ist kein schlechter Mensch, wenn man sich dieser Faszination nicht gleich verschliesst.

Im 19. Jahrhundert reisten englische Gesandte, beauftragt von der Krone, in die Schweiz, um das vorbildliche Schulsystem im Kanton Zürich zu studieren. Ihr Befund war ein einziges Kompliment an unser Land: Die Schweiz habe grossartige Bildungsstätten, in denen vor allem zweierlei gelehrt würde: Gewerbefleiss und Vaterlandsliebe. Heute würden wir sagen: Rechnen und Geschichte.

Wir Schweizer müssen wieder lernen, wer wir sind. Wir drohen es zu vergessen, und wenn wir es vergessen, verlieren wir die Schweiz, unseren Halt, unseren Standpunkt in der Welt. Die Schweiz ist kein Konstrukt, sie ist eine Idee, die im Laufe der Geschichte zur Wirklichkeit geworden ist. Nur aus ihrer Geschichte heraus kann die Schweiz verstanden werden.

Die Schweiz ist nicht nur ein Sonderfall, sie ist die Ausnahme, eine Provokation der Freiheit und der Demokratie. Wir spüren, im Clinch mit der EU fast täglich, wie sehr die Schweiz im Ausland, unter Politikern, als Provokation empfunden wird. Unsere Leute entschuldigen sich dann jeweils, reflexhaft, für die Schweiz. Vielleicht auch deshalb, weil sie selber nicht mehr wissen, wie sie unsere Schweiz verteidigen können.

Kein Wunder. Die Abgründe des Nichtwissens werden grösser. In den neuen Lehrplänen ist Schweizer Geschichte gar kein eigenes Fach mehr. Das ist nicht gut. Das muss geändert werden. Deshalb haben wir anfang Jahr auf unserer Website (Weltwoche-App herunterladen) die neue Serie «Meilensteine der Schweizer Geschichte» mit Prof. Christoph Mörgeli gestartet, jeden Samstagmorgen eine knappe halbe Stunde Interview an wechselnden historischen Örtlichkeiten. Ich freue mich und wünsche Ihnen weiterhin viel lehrreiches Vergnügen.

Es ist gut, Schweizer zu sein. R. K.

Die 3 Top-Kommentare zu "Es ist gut, Schweizer zu sein"
  • Doofydoof

    Kontra-Schema seit ca.15 Jahren klar erkennbar: Alles was + ist, sofort konsequent in Unruhe/Änderung versetzen, wenn möglich mit dummblöden Narrativen gleichschalten und zerstören; Bildung, Soziales, Sicherheit, Wissenschaft, Volk, Wirtschaft, Politik etc. und nur noch defizitäre (Intelligenz, Charakter) Volltrottel an die «Macht», diese werden es dann als Mehrheit schon richten! Diese Konstanz ist nicht mehr zu leugnen, da bittere Realität! Lösungen sind vorhanden aber nicht mit 500 Zeichen!

  • RillyGötesBror

    Oh ja! Genauso ist es! Aber esfehlt seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten an griffigem, bürgerlichen Widerstand gegen die Verluderung der Schweiz. Wer hält den quälenden Suizid unserer Gesellschaft auf? Wieso versinken wir tagtäglich noch mehr in grün-rotem Treibsand und der EU? Wer kann diesen Trend umdrehen? Oh jeh!

  • miggeli1

    Die Frage weshalb denn die Schweiz so anziehend auf EU Bürger ist, lautet:Warum kommen so viele in die Schweiz?Es ist nicht nur der höhere Verdienst, es ist viel mehr.Aber man fragt sie ja nicht, aus gutem Grund.Man könnte die zerredete Wahrheit entdecken.Merke.Seit WKII sind zwei mal soviele Ausländer in die Schweiz eingewandert wie sie Einwohner hatte, 8,6 Millionen.Ich habe nichts gegen den Ausländer, aber sehr viel gegen jene, die die Schweiz zur Selbstaufgabe führen.Und dahin kommen wir.