Ohne geht’s nicht – das war auch den meisten Teilnehmern an der internationalen Klimakonferenz (COP28) bewusst, die im Dezember letzten Jahres in Dubai über die Bühne ging. Ohne den Einsatz neuer Technologien wird es den Staaten kaum möglich sein, ihre Reduktionsziele bei den Treibhausgasen zu erreichen, damit die Erderwärmung, wie 2015 im Pariser Abkommen vereinbart, auf 1,5 Grad oder nur wenig mehr begrenzt werden kann. Ein Beispiel einer solchen innovativen Technologie ist die Abscheidung, Nutzung oder Speicherung von Kohlendioxid (CO2), wofür gerne das Kürzel CCUS für «Carbon capture, utilisation and storage» verwendet wird. Der Begriff findet sich denn auch in der Abschlusserklärung der COP28 wieder, in der den Staaten unter anderem empfohlen wird, bis 2050 aus fossilen Energien wie Kohle, Öl und Gas ganz auszusteigen. CCUS soll dort eingesetzt werden, wo sich CO2-Emissionen mit anderen Mitteln trotz allen Anstrengungen kaum vermeiden lassen.

Eine Branche, die grosse Hoffnungen in CCUS setzt, um nationale Vorgaben wie netto null bis 2050 zu erreichen, ist die Zementindustrie, die als eine der weltweit grössten Emittentinnen von CO2 gilt. Das liegt daran, dass für die Produktion von Zement, dem Grundstoff für Beton und damit die ganze Bauindustrie, Klinker benötigt wird. Klinker wird hergestellt, indem primär Kalkstein gemahlen und unter sehr hohen Temperaturen verbrannt wird, bis das Ganze verschmilzt. Danach wird der Klinker unter Beigabe weiterer Rohstoffe zu Zement vermahlen.

Das erste Problem bei der Herstellung von Klinker ist, dass für die Verbrennung grosse Mengen Energie benötigt werden – es lässt sich aber grundsätzlich lösen, indem CO2-neutrale oder zumindest -arme Energieformen eingesetzt werden. Das zweite, schwierigere Problem liegt darin, dass im Produktionsprozess selber, bei der Umwandlung des Kalksteins in Branntkalk, zwangsläufig viel CO2 freigesetzt wird. Dieses aufzufangen, wiederzuverwerten oder zu lagern, könnte künftig zum bedeutendsten Anwendungsfall für CCUS werden.

 

«Vom Steinbruch bis zum Lastwagen»

Für die international tätigen europäischen Zementriesen gehört denn auch die neue Technologie zum Instrumentarium, das sie einsetzen, um den Übergang in eine «dekarbonisierte» Zukunft zu schaffen. Heidelberg Materials beispielsweise ist daran, in Norwegen eine Anlage zu bauen, mit der das bei der Zementproduktion anfallende CO2 gesammelt und anschliessend in der Nordsee gespeichert werden soll – 2025 will der Konzern als erster Anbieter weltweit mit zertifiziertem, vollständig dekarbonisiertem Zement am Markt sein. Auch in der Dekarbonisierungsstrategie der Schweizer Konkurrentin Holcim, die «vom Steinbruch bis zum Lastwagen» greifen soll, spielt CCUS eine entscheidende Rolle: Über die Hälfte der bis 2030 angepeilten zusätzlichen CO2-Reduktion soll auf ihr Konto gehen.

Die Anstrengungen Holcims sind denn auch von der Präsidentschaftsinitiative der Klimakonferenz in Dubai gewürdigt worden. Der Konzern wurde im Dezember als «Energy Transition Changemaker» und sein «Carbon2Business»-Vorhaben im deutschen Lägerdorf als herausragendes innovatives Projekt ausgezeichnet. In Lägerdorf, wo seit fast 160 Jahren Zement produziert wird, sollen ab 2029 jährlich 1,2 Mio. Tonnen CO2 abgeschieden und als Rohstoff für die Industrie genutzt werden. Für die Abtrennung können verschiedene Verfahren eingesetzt werden, in Lägerdorf will Holcim reinen Sauerstoff (aus der grünen Wasserstoffproduktion) in den Verbrennungsprozess einspeisen, so dass fast 100 Prozent der CO2-Emissionen abgeschieden werden (Oxyfuel-Verfahren).

Lägerdorf ist eines von sechs CCUS-Projekten von Holcim in Europa, mit denen ab 2030 mindestens 8 Millionen Tonnen Netto-null-Zement produziert werden sollen. Klimabewusste Bauherren dürften dannzumal bereit sein, dafür eine Prämie gegenüber nichtzertifiziertem Werkstoff zu bezahlen (qualitative Unterschiede sollte es nicht geben).

Holcims Projekte werden vom EU-Innovationsfonds mit öffentlichen Geldern gefördert – für Lägerdorf und ein Projekt in Polen beläuft sich der Betrag immerhin auf 338 Millionen Euro. Auch Heidelberg Materials holt für seine Projekte staatliche Mittel ab. In einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Dezember 2022 bezifferte der Vorstandsvorsitzende Dominik von Achten die staatliche Unterstützung der CCUS-Projekte bis 2030 auf insgesamt 1,5 Milliarden Euro. Das Unternehmen werde aber den gleichen Betrag auch selber in die Hand nehmen.

Dass in der Zementindustrie kein Weg an CCUS vorbeiführt, wenn sie ihren CO2-Ausstoss weiter substanziell reduzieren will, ist allerdings keine neue Erkenntnis. Bereits in der 2020 vom Verein Deutscher Zementwerke (VDZ) publizierten «CO2-Roadmap für die deutsche Zementindustrie» wird festgehalten, dass für eine weitergehende Dekarbonisierung der Branche «vor allen Dingen die Abscheidung von CO2 im Zementwerk und dessen Nutzung beziehungsweise Speicherung» eine entscheidende Rolle spielen werden.

Dass CCUS nun derart zum Hoffnungsträger geworden ist, liegt auch daran, dass die europäischen Zementriesen bereits grosse Efforts unternommen haben, um weniger klimaschädlich zu werden – das Potenzial, das sich mit relativ einfachen und günstigen Massnahmen heben lässt, ist schon zu grossen Teilen ausgeschöpft; Kohle, Erdöl und Erdgas sind durch nichtfossile Energieformen (Elektrizität aus erneuerbaren Quellen, Wasserstoff und alternative Brennstoffe aus Biomasse) ersetzt worden.

Eine weitere wichtige Massnahme ist, dass vermehrt andere geeignete mineralische Stoffe wie Ton/Lehm beigemengt werden, um den Klinkergehalt des Zements zu senken. Doch all die bisherigen Massnahmen und auch die künftigen Effizienzsteigerungen und Optimierungen entlang der Produktionskette reichen nicht aus, wenn die Zementindustrie als Ganzes netto null beziehungsweise klimaneutral werden will. Mit ihnen kann gemäss der VDZ-Roadmap nur knapp die Hälfte der Emissionen (Stand 2019) der deutschen Zementindustrie vermieden werden, wenn das Ziel Klimaneutralität im Jahr 2050 heisst. Für den grossen Rest braucht es CCUS.

CO2 an der Quelle aufzufangen, es unschädlich zu machen, indem es gelagert wird, oder es gar zu nutzen, klingt natürlich sehr gut. Doch es gibt auch zahlreiche Einwände dagegen. Die Aussicht, dass das Klimaproblem dereinst vielleicht elegant technologisch entschärft werden könnte, dürfe erstens nicht dazu führen, mit den Anstrengungen heute nachzulassen und auf echte Reduktionen zu verzichten. Zudem wird zweitens auf die hohen Kosten der unerprobten Technologie verwiesen und drittens die Sicherheit der Lagerung von CO2 zum Beispiel im Meeresgrund angezweifelt.

Diese Argumente sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Aber wenn das Netto-Null-Ziel erreicht werden soll, müssen auch die heute nicht mit vernünftigem Aufwand vermeidbaren Emissionen neutralisiert werden – und dafür scheint CCUS ein vielversprechender Ansatz zu sein. Dass es sich um eine unerprobte Technologie handelt, ist nicht ganz richtig. Holcim verweist auf ihrer Website darauf, dass der Prozess sogar natürlich stattfinde und entsprechende Speicherverfahren seit fünfzig Jahren im Gebrauch seien – wenn auch mit anderen Motiven.

So setzt die Ölindustrie schon lange CO2 ein, um den Druck bei der Förderung zu erhöhen. Und in punkto Sicherheit ist zu beachten, dass Kohlendioxid viel weniger gefährlich ist als die meisten anderen Abfallstoffe, die irgendwo im Erdreich deponiert werden, und das Schadenspotenzial daher begrenzt ist.

 

Probe aufs Exempel

Bleibt die Frage der Wirtschaftlichkeit der neuen Technologie und die der staatlichen Gelder. Erfahrungsgemäss tendieren Anschubfinanzierungen über die Zeit dazu, zu dauerhaften Subventionen zu mutieren. Immerhin scheint sich die Branche der Problematik bewusst zu sein. «Mittel- und langfristig muss es unser Ziel sein, von Subventionen wegzukommen», hält der Chef von Heidelberg Materials im erwähnten Interview nüchtern fest.

Spätestens, wenn die für CCUS nötige Infrastruktur aufgebaut ist, muss sich das Geschäftsmodell selbst finanzieren. Und wenn die Abscheidungs-, Verwertungs- und Speichertechnologie in der Zementindustrie mit vernünftigem Aufwand zum Funktionieren gebracht werden kann, eröffnet das neue Perspektiven, den Übergang in eine CO2-arme Zukunft insgesamt weniger disruptiv zu gestalten.