«Wenn Gott gewollt hätte, dass Tiere Räder haben, hätte er zuerst Strassen gebaut», meinte der amerikanische Biologe Richard McCourt. In der Tat ist das Vorhandensein von Strassen oder Schienen für den effizienten Gebrauch von Rädern fast unentbehrlich, denn je härter und flacher eine Unterlage, desto kleiner der Rollwiderstand. Falls man in der Natur rollende Fortbewegung finden will, muss man also an Orten mit festem, flachem Untergrund suchen, zum Beispiel in Savannen oder Wüsten.
Dort leben tatsächlich Tiere, die das Geheimnis des Rollens kennen: die Skarabäen oder Pillendreher. Diese Käfer formen den Kot von pflanzenfressenden Säugetieren zu Kugeln, die sie mit den Hinterbeinen hurtig von dannen rollen, bis zu einem unterirdischen Versteck. Dort dient ihnen der Dung entweder als persönlicher Fressvorrat oder zur Aufzucht der Brut. Die Mistkugel der Pillendreher kann ohne weiteres fünf Zentimeter hoch sein – dreimal so hoch und zwanzigmal so schwer wie der Käfer selber. Wenn der Schwertransport mit flotten zwanzig Zentimetern pro Sekunde vor sich geht, wird die Effizienz der rollenden Transportart offensichtlich.
Attacke und Fleissarbeit
In den Sanddünen der Namib-Wüste im südwestlichen Afrika entdeckte der Biologe Joh Henschel im Jahr 1990 ein lebendes Rad: Carparachne aureoflava, die Goldene Radspinne. Sie haust auf den mächtigen Sanddünen, wo sie als Versteck bis zu fünfzig Zentimeter tiefe Röhren schräg in den Hang baut. Das ist im lockeren Sand ein schwieriges Unterfangen. Die Spinne schafft es, indem sie während des bergmännischen Vortriebs die Tunnelwand laufend mit Seide stabilisiert. Zum Schutz vor Feinden verschliesst sie den Eingang mit einer Tür aus einem Gemisch von Sand und Seide. Nachts geht sie auf Jagd und holt sich Insekten.
Der Todfeind der Goldenen Radspinne sind die Wegwespen. Unermüdlich suchen die Weibchen dieser schwarzen Wespen die Dünen nach Radspinnen ab. Finden sie eine Seidentür, brechen sie ins Versteck ein. Die Spinne verteidigt sich in der engen Röhre mit den Vorderbeinen oder reisst notfalls die stützende Seidenarmierung aus der Wand. Kann so die Spinne die erste Attacke abwehren, geht die Wespe zur Fleissarbeit über und buddelt oberhalb des Spinnenverstecks einen Trichter in den Hang. Sie gräbt stundenlang, um im rieselnden Sand ans Ziel zu kommen. Für einen fünfzehn Zentimeter tiefen Krater muss sie mit den blossen Beinen fünf Kilogramm Sand aus dem Hang schaufeln – immerhin das 80 000-Fache ihres Körpergewichts.
Schnell wie ein Ferrari
Ist der Wespe der Einbruch gelungen, packt die Spinne ihre letzte Chance. Sie hetzt am Feind vorbei zum Kraterrand, spurtet ein Stück weit den Dünenhang hinunter und wirft sich blitzartig auf die Seite, die acht Beine jeweils am dritten Gelenk zum Körper hin angewinkelt: Aus der Spinne ist ein Rad geworden. Auf dem Kranz ihrer Beingelenke rollt sie hangabwärts und wird dabei immer schneller.
Henschel hat bis zu 44 Umdrehungen pro Sekunde gemessen – die Radrotation eines Ferraris bei 300 Kilometern pro Stunde. So wirbelt die Radspinne in zehn Sekunden mühelos um die zehn Meter weit und kippt vielleicht erst nach einer Rennstrecke von hundert Metern am Fuss der Düne wieder auf die Beine. Die Wespe scheint die rollende Spinne förmlich aus den Augen zu verlieren, denn obwohl sie fliegen kann, findet sie ihre Beute nicht wieder.
Herbert Cerutti ist Autor und Tierexperte.
Eine Videosequenz auf www.nationalgeographic.de/video/tv/radspinne zeigt die rasenden Flucht.
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Es ist inspirierend, von solchen Wundern der Natur zu lesen. Die Wirklichkeit aufregender als die Fantasie.