Energieminister und SVP-Bundesrat Albert Rösti übt scharfe Kritik am Klima-Urteil aus Strassburg. In der Sendung «Talk täglich» von Tele Züri sagte Rösti, dass die Schweiz seit Einreichung der Klage viele Fortschritte im Klimaschutz gemacht habe.
Die Bevölkerung habe letztes Jahr einen Entscheid in Richtung Dekarbonisierung gefällt. Dies sei nicht berücksichtigt worden, so der SVP-Bundesrat.
«Ich sehe da eine Verschiebung der Gewaltenteilung – eine Stärkung der Judikative», sagt Rösti. Das sei nicht vereinbar mit einer direkten Demokratie. «Hier bestimmt das Volk am Schluss darüber, welche Massnahmen effektiv getroffen werden», hält der Energieminister fest.
Am 9. Juni stimmt die Bevölkerung über das Stromgesetz ab.
Der Blick kommentiert das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der einer Gruppe von Seniorinnen gegen die Schweiz recht gegeben hat, als «fragwürdig». Mehr noch, der Titel lautet: «Wir wollen keine Klima-Justiz».
Zwar seien die Seniorinnen, die in der Heimat abgeblitzt seien und nun in Strassburg gewonnen hätten, «reflexartig sympathisch», schreibt das Boulevardblatt. «Aber bei aller Sympathie für die Seniorinnen ist dieses Urteil befremdlich und möglicherweise gar kontraproduktiv.»
Denn das Urteil verlange quasi, «dass die Schweiz ihre Umweltpolitik den Bedürfnissen der klagenden Seniorinnen anzupassen hat». Der Autor vermutet, dass sich die Fronten in der Klimapolitik «noch mehr verhärten» und der SVP-Europapolitik in die Hände spiele.
Es heisst: «Die Schweiz ist noch lange nicht da, wo sie klimapolitisch sein sollte. Aber wir wollen demokratisch um die richtigen Massnahmen ringen. Wir wollen eine wirksame Klimapolitik, keine Klimajustiz.»
In der Rechtsauseinandersetzung Verein Klimaseniorinnen Schweiz gegen Schweizerische Eidgenossenschaft vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte waren zahlreiche Dritte mit Stellungnahmen involviert. Etliche Schweizer Wissenschaftler waren mit von der Partie im ersten grossen Klima-Seilziehen Schweizerinnen gegen Schweiz.
Im Bericht des Gerichtshofs gilt unter anderem eine Passage den Klimaprofessoren Sonia I. Seneviratne und Andreas Fischlin von der ETH. Laut den Ausführungen machten die Streithelfer auf Basis einer Analyse der einschlägigen Messungen von Treibhausgas-Emissionen geltend, dass der Beitrag der Schweiz zum menschengemachten Klimawandel, einschliesslich ihrer historischen Verantwortung, trotz einiger Fortschritte in der Klimapolitik in den letzten Jahren ungefähr so hoch wie der vieler anderer europäischer Länder sei, wenn nicht sogar höher.
In der Schweiz sei die Umsetzung von Vorschriften zur Verringerung der CO2- und anderer Treibhausgasemissionen überfällig. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse machten deutlich, dass die Schweiz derzeit nicht genügend dazu beitrage, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. So war ja dann auch etwa der Tenor des Gerichtsurteils.
Des Weiteren wird im Urteil auf eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universität Bern verwiesen: auf die Professoren Claus Beisbart, Thomas Frölicher, Martin Grosjean, Karin Ingold, Fortunat Joos, Jörg Künzli, Christoph C. Raible, Thomas Stocker, Ralph Winkler und Judith Wyttenbach sowie die Ärztinnen Ana M. Vicedo-Cabrera und Charlotte Blattner.
Punkto Einhaltung der Klimaverpflichtungen der Schweiz werden sie vom Gerichtshof mit den Argumenten aufgeführt, die entsprechenden Versprechen seien nicht eingehalten und besonders die Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen noch immer nicht ins Gesetz aufgenommen worden. Die Politik der Schweiz stehe in krassem Gegensatz zu den wissenschaftlichen Einschätzungen der mit der 1,5-Grad-Limite kompatiblen Pfade.
Die Schweiz habe bisher keinen Plan gehabt, der wirksam zur Eindämmung der globalen Erwärmung beitragen würde, und habe auch weiterhin keinen solchen Plan. Die Klimapolitik der Schweiz sei kontinuierlich von der Erreichung ihrer ohnehin schon niedrigen Minderungsziele abgekommen.
Zu diesen Stellungnahmen schreibt der Gerichtshof, dies seien die Erwägungen, die er bei der Beurteilung des Ermessensspielraums der Schweiz und ihrer Einhaltung der positiven Verpflichtungen aus der Menschenrechtskonvention habe berücksichtigen müssen.
Die Richter werden sich gesagt haben: Wenn Schweizer Wissenschaftler ihr Land so beurteilen, dann muss es sicher stimmen.
Mit seinem Urteil zur Beschwerde des Vereins der Klimaseniorinnen Schweiz hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als neue Weltversteher-, Weltlenker- und -retterinstanz ins Scheinwerferlicht geschoben.
Die Richter sind mit sechzehn gegen eine Stimme zum Schluss gekommen, dass die Schweizer Behörden in der Klimapolitik nicht genug Massnahmen ergreifen, um die Auswirkungen des Klimawandels so abzumildern, wie es mit Blick auf die Menschenrechtskonvention zur Achtung des Privat- und Familienlebens ihre Pflicht wäre.
Die Beschwerden der vier einzelnen Frauen, die im Verfahren ausführlich ihre Leiden in der Schweizer Hitze darlegten, wurden zwar nicht gutgeheissen, jene des Vereins als Kollektiv hingegen schon, aus irgendeinem Grund. Der Verein hatte zur Verteidigung auch viele andere Kollektive wie NGOs an seiner Seite.
Der Gerichtshof muss über sehr viel Wissen verfügen, er zitiert in seinem Urteil ausgiebig aus Schriften der Klimawissenschaften, aus dem Fundus des Uno-Weltklimarats IPCC. Man muss vermuten, dass er sich neben der juristischen Fachkompetenz auch enorme naturwissenschaftliche Expertenkenntnisse erarbeitet hat, die ihn befähigen, die Befunde so zu bewerten, dass sich für ihn der Schluss ergibt: Die Zusammenhänge in der ganzen komplexen globalen Klimasituation sind tatsächlich so, dass die Schweiz, die für 0,18 Prozent der globalen CO2-Emissionen steht und Spitzenwerte in der Energieeffizienz erreicht, zu wenig getan hat, um zur Milderung des Klimawandels beizutragen und Gruppen wie die älteren Frauen und deren Gesundheit zu schützen.
Für die Fachleute des Gerichtshofs ist es offensichtlich zentral, sich am Pariser-Klimaabkommen zu orientieren, gemäss dem die Erderwärmung auf höchstens 2 Grad Celsius begrenzt werden soll. Diese seinerzeit politisch ausgehandelte, nicht wissenschaftlich bestimmte Marke, deren Einhaltung selbst nach Unterzeichnung international nicht durchsetzbar ist, ist eine Art Fixstern für den Gerichtshof. «Paris» sagen ist gut.
Ähnliches gilt für das damit zusammenhängende Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2050 auf netto null zu reduzieren, verbunden mit der Vorstellung, es gebe für die Erde nur noch ein bestimmtes CO2-Emissions-Budget.
In der Beurteilung des Gerichts scheinen Kosten-Nutzen-Überlegungen keine grosse Rolle zu spielen, die Argumente zielen vor allem auf die Reduktion von Treibhausgas-Emissionen, nicht auf die Belastungen, die in vielfacher Hinsicht damit verbunden sein können.
Das Urteil des Gerichtshofs ist aufsehenerregend, weil er sich erstmals auf eine solche Massregelung umfassender politischer Prozesse einlässt, im Fall der Schweiz einer direkten Demokratie in einem dreistufigen föderalen Staat.
Mitte-Aussenpolitikerin Elisabeth Schneider-Schneiter macht einen Punkt: «Dieser Entscheid hilft lediglich der SVP und nicht etwa dem Klima», schreibt die Baselbieterin auf X, die selbst eine flammende Befürworterin des Rahmenabkommens 2.0 mit der EU ist.
Tatsächlich stellt sich die Frage: Generationen von Schweizer wussten, dass sie demokratisch bestimmen können, welchen Weg ihr Land einschlagen wird.
Das Beispiel der Klima-Seniorinnen zeigt jetzt, dass dieser eingespielte Prozess, mit dem Gang an ein internationales Gericht – in diesem Fall der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – ausgehebelt und übersteuert werden kann.
Die Frage ist: Befürworten die Bürger dieses Landes diese Entwicklung? Wollen sie ihre Mitsprachemöglichkeiten reduzieren und Entscheidungen an ausländische Parlamente, Regierungen und Gerichte auslagern? Akzeptieren sie fremde Richter, die mitbestimmen wollen – wie in diesem Fall – welchen Kurs die Schweiz in der Klimapolitik einschlagen soll?
Die Schweiz steht vor der Jahrhundert-Abstimmung über das Rahmenabkommen 2.0. Nach dem Entscheid aus Strassburg sollte nun jeder kapieren, was es geschlagen hat und was auf dem Spiel steht.
Wer weiss, vielleicht hat Schneider-Schneiter wirklich recht und dieser Entscheid könnte dem Lager Aufschwung geben, das an der Selbstbestimmung des Landes festhalten möchte.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte spricht die Schweiz in einer Klage der Klimaseniorinnen schuldig.
Der Verein hatte beanstandet, die schweizerischen Behörden ergriffen nicht genügend Massnahmen dafür, den Klimawandel zu bekämpfen – was Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletze. Dieser schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Die Klimaseniorinnen hatten konkret beklagt, dass die unzureichenden Klimaschutzmassnahmen der Schweizer Behörden ihren Gesundheitszustand ernsthaft beeinträchtigen würden. Das Urteil des Gerichtshofs könnte als wegweisend betrachtet werden, da es das erste Mal ist, dass ein Staat wegen mangelnder Initiativen zur Bekämpfung des Klimawandels verurteilt wurde.